Matthias Domaschk

Matthias Domaschk in Bad Frankenhausen, März 1977, ThürAZ, Sammlung / Foto Wolfgang Diete, Signatur: ThürAZ-F-DW-037.01
Matthias Domaschk in Bad Frankenhausen, März 1977, ThürAZ, Sammlung / Foto Wolfgang Diete, Signatur: ThuerAZ-F-DW-037-01

Am 12. April 1981 stirbt der 23jährige Matthias „Matz“ Domaschk in der Geraer Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) – der Darstellung des MfS und aktuellen Forschungsergebnissen entsprechend handelt es sich um einen Suizid. Wie kam es dazu, dass Matthias Domaschk – wie viele andere selbstbestimmt lebende junge Menschen in der DDR – ins Visier der staatlichen Sicherheitsorgane geriet?

Geboren wird Matthias Richard Domaschk am 12. Juni 1957 in Görlitz im Bezirk Dresden. Hier wächst er mit seiner älteren Schwester Stefanie auf. Er besucht die 15. Polytechnische Oberschule (POS) und nimmt auf Wunsch seiner Mutter Ruth an der Christenlehre teil. Gleichzeitig ist er Mitglied der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“, wird mit 11 Jahren Brigadeleiter in seiner Klasse und später Kulturverantwortlicher in der FDJ-Leitung seiner Klasse an der POS „Dr. Theodor Neubauer I“ in Jena.

1970, als er 13 Jahre ist, ziehen seine Eltern mit Matthias nach Jena-Neulobeda. Sein Vater tritt eine Stelle als Hauptabteilungsleiter beim VEB Carl Zeiss an, seine Mutter übernimmt eine Tätigkeit als Pförtnerin an der Sektion Theologie der Uni Jena. 1972 feiert Matthias seine Jugendweihe, wird in diesem Jahr aber auch konfirmiert.

Matthias (2. v. r.) bei seiner Konfirmation 1972, ThürAZ, Sammlung Matthias Domaschk, Signatur: ThuerAZ-P-DoM-K-01.09
Matthias (2. v. r.) bei seiner Konfirmation 1972, ThürAZ, Sammlung Matthias Domaschk, Signatur: ThuerAZ-P-DoM-K-01.09
Matthias Domaschk (2. v. r.) mit Freunden am Fuchsturm in Jena im April 1977, ThürAZ, Sammlung / Foto Wolfgang Diete, Signatur: ThuerAZ-F-DW-040.02
Matthias Domaschk (2. v. r.) mit Freunden am Fuchsturm in Jena im April 1977, ThürAZ, Sammlung / Foto Wolfgang Diete, Signatur: ThuerAZ-F-DW-040.02

1974 beginnt Matthias, dessen ursprünglicher Studienwunsch Geodäsie ist, eine Berufsausbildung zum Feinmechaniker mit Abitur beim VEB Carl Zeiss. Er legt das Abzeichen für gutes Wissen ab, tritt in die Deutsch-Sowjetische Freundschaft, in den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) und in die Gesellschaft für Sport und Technik (GST) ein. Gleichzeitig liest er viel: J. D. Salinger, Hermann Hesse, Franz Kafka, Jack Kerouac.

Mit der Zeit werden seine Haare länger und die Kleidung lässiger: Jeans, Parka, Jesuslatschen und bunte Hals- und Armbänder, die vor dem Betreten der elterlichen Wohnung sorgfältig abgelegt werden, um Konflikte mit den Eltern zu vermeiden. Mit einem alten Kofferradio nimmt er Musik auf, die u. a. die westdeutschen Radiosender RIAS und Bayern 2 ausstrahlen: die Beatles, Jimi Hendrix, die Rolling Stones, Led Zeppelin. Mit Freunden gründet er die Schülerband Out, deren Name sich von seiner polnischen Lieblings-Bluesband Breakout ableitet. Aus dieser Band geht die Gruppe Uller hervor, die Matthias später als Roadie bei Konzerttouren begleitet.

Im Sommer 1974 trampt Matthias mit einem Freund aus Jena in die Hohe Tatra. In seinem Lebenslauf schreibt er über diesen ersten Urlaub, den er unabhängig von den Eltern verbringt: „Dies war für mich eigentlich sehr wichtig, da ich zum 1. Mal für längere Zeit meine Unabhängigkeit unter Beweis stellen mußte.“ In Brno schreibt er in sein Tagebuch: „die zeit bis jetzt kommt mir vor wie monate. […] die vorletzte schachtel karo geht auch gerade zur neige […]. langsam kommt mir trotz meiner nassen klamotten doch noch das heulen, ich will nicht zu ZEISS“.

Dennoch beginnt er im September seine Berufsausbildung. Viele seiner neuen Freund:innen in Jena sind ebenfalls in der Lehre: als Zerspanungsfacharbeiterin beim VEB Carl Zeiss, als Gebrauchswerber bei der Handelsorganisation, als KfZ-Schlosser. Peter Rösch, Spitzname „Blase“, macht mit Matthias zusammen die Ausbildung zum Feinmechaniker bei Zeiss. Freund:innen, die – wie er – gerne lesen, diskutieren, philosophieren und sich Gedanken über die Gesellschaft machen, in der sie leben, findet Matthias auch über die Jugendarbeit der Jenaer Kirchgemeinden.

1973 verkleidet sich Matthias bei einer Faschingsfeier der katholischen Kirchgemeinde mit einem alten Nachthemd, das er mit Ruß und Asche beschmiert, als „Umweltschmutz“.

Politisierung

1975 lernt Matthias die sieben Jahre ältere Renate Groß kennen, die nach ihrem Theologiestudium in Berlin eine Stelle als Gemeindehelferin in Lobeda innehat. Die beiden werden ein Paar. Über Besuche in Ost-Berlin, wo Renate noch eine Wohnung hat, findet Matthias Kontakt zur Jugendsubkultur der Tramper oder „Kunden“, wie sie sich selbst nennen. Er erfährt von Repressionen, mit denen die meist langhaarigen Bluesliebhaber konfrontiert sind: Schikanen durch Lehrer, Angehörige der Volkspolizei oder der Nationalen Volksarmee, aber auch Relegationen vom Studium und Gefängnisstrafen.

Auch der Freundeskreis von Matthias muss im Januar 1975 die Erfahrung machen, dass das Abweichen von Normen in der sozialistischen Gesellschaft erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen kann. Im Januar 1975 wird die Verlobungsfeier eines befreundeten Paares in einer Wohngemeinschaft in der Gartenstraße 7 gewaltsam von der Volkspolizei aufgelöst. Vier Personen werden im Schnellverfahren verurteilt, nachdem sie sich mit Eingaben und Anzeigen gegen die Polizeigewalt gewehrt haben. Mehrere von ihnen werden monatelang inhaftiert, unter anderem eine 18jährige Freundin von Matz. Diese und weitere Erfahrungen führen zur zunehmenden Politisierung und gegenseitiger Unterstützung der jungen Menschen.

Ab dem Sommer 1975 nimmt Matthias als einer der Jüngsten an Jenaer Lesekreisen teil, in denen Werke von Wolf Biermann, Robert Havemann, George Orwell und anderen kritischen Autoren gelesen und besprochen werden.

 

Matthias Domaschk beim Trampen, ThürAZ, Sammlung Julia Ellmenreich, Signatur: ThuerAZ- F-EJ-027
Matthias Domaschk beim Trampen, ThürAZ, Sammlung Julia Ellmenreich, Signatur: ThuerAZ- F-EJ-027

„Was kümmert euch, was mir gefällt? Ich lebe mich, nicht euch, in dieser Welt“[1]

Zum Jahreswechsel 1975/76 zieht Matthias aus der elterlichen Wohnung in Neulobeda aus und in die Wohnung seiner Partnerin Renate Groß Am Rähmen 3 ein. Seiner Schwester Stefanie erklärt der 18jährige, er ziehe nicht aus, „weil ich meine familie nicht mehr sehen kann, sondern weil ich mein leben von der familie losgelöst aufbauen will. […] tut mir leid, aber es ist auch mein leben und ich glaube ich habe ein recht darauf, es selber einzurichten. […] hier zu hause gibt es keinen weg mehr.“

 

[1] Zitat aus dem Gedicht „Tanzlied des Totenschiffs“ aus dem 1926 veröffentlichten Roman „Das Totenschiff“ von B. Traven (Otto Feige), das Matthias abgeschrieben und an seine Zimmerwand gehängt hatte.

Matthias Domaschk Am Rähmen 3, 1976, ThürAZ, Sammlung Renate Ellmenreich, Signatur: ThuerAZ-F-EJ-004
Matthias Domaschk Am Rähmen 3, 1976, ThürAZ, Sammlung Renate Ellmenreich, Signatur: ThuerAZ-F-EJ-004

Solidarität mit politisch Verfolgten

Im November 1976 unterschreiben Matz und Renate eine Solidaritätserklärung mit der Protestresolution prominenter Berliner Kulturschaffender gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, die am 18.11.1976 in der Jungen Gemeinde Stadtmitte in Jena kursiert. Matthias bringt den Text der Resolution und eine Blanko-Liste zur Unterschriftensammlung am Tag darauf nach Meerane im Bezirk Karl-Marx-Stadt. Am Nachmittag des 19.11.1976 wird die Wohnung von Renate und Matz von drei Mitarbeitern des MfS durchsucht. Am 20.11.1976 werden Renate und Matthias der Kreisdienststelle des MfS Am Anger „zugeführt“ und verhört. Matz wird erst am Folgetag wieder entlassen.

Im März 1977 wendet sich Michael Deicke (IMV „Heinz Müller“) aus Ost-Berlin an Renate und Matthias und ermutigt sie, mit dem West-Berliner Schutzkomitee für Freiheit und Sozialismus zusammenzuarbeiten. Das Komitee hat sich nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann gegründet und setzt sich für die Freilassung politischer Gefangener in der DDR ein. Matthias und Renate lassen sich nach anfänglicher Skepsis auf die Zusammenarbeit ein und unterstützen das Komitee aus der DDR heraus, ermitteln Namen von Inhaftierten und biografische Informationen, besuchen Angehörige, verteilen Spendengelder. Im Mai 1977 nehmen Renate und er im Auftrag des Schutzkomitees Kontakt zu zwei Gründungsmitgliedern der Charta 77 auf: Anna Šabatová und Petr Uhl. Sie besuchen das Paar für mehrere Tage in Prag, sprechen über Menschenrechtsverletzungen in der CSSR und in der DDR und verschriftlichen ihre Erfahrungen aus Jena, damit die Charta 77 sie veröffentlichen kann.

Staatliche Repression

Zu diesem Zeitpunkt ist Matthias` berufliche Zukunft bereits verbaut. Auf Anweisung der Jenaer Kreisdienststelle des MfS wird ihm wenige Wochen vor dem Abitur und der Facharbeiterprüfung mitgeteilt, seine Ausbildung könne er nur noch ohne Abitur abschließen. Seinen Plan, das Abitur an der Volkshochschule nachzuholen, wird er nicht mehr umsetzen.

Aus der Abschlussbeurteilung der Berufsschule gehen deutlich die eigentlichen Gründe für den Ausschluss vom Abitur hervor: „Sein Bestreben, vom Elternhaus unabhängig zu sein, führte zur Trennung von diesem. Dieser Schritt machte sich in einem Leistungsabfall deutlich spürbar. So unterlag Matthias politisch-ideologischen Einflüssen, die seine Haltung negativ beeinflußten. Seine gegenwärtige politische Haltung und seine aktive Tätigkeit auf politisch-ideologischem Gebiet, die eine ernsthafte Gefährdung seiner Persönlichkeitsentwicklung darstellen, führten zur Umsetzung von der Berufsausbildung mit Abitur zu Berufsausbildung ohne Abitur.“

 

Über Freunde aus West-Berlin besorgen sich Matthias und Renate Literatur, die in der DDR nicht offiziell zu bekommen ist: Wolfgang Leonhardts „Die Revolution entlässt ihre Kinder“, „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome und andere. Mit einem Freund findet Matthias ein Versteck für die Bücher in einem verlassenen Hinterhaus Am Steinweg, in der Nähe der Wohnung Am Rähmen. Die Bücher kursieren im Freundeskreis.

Auf der Schreibmaschine tippt Matthias in der Dachgeschosswohnung Am Rähmen die Gedächtnisprotokolle von Jürgen Fuchs ab, der aufgrund seiner Texte wegen „Schädigung des Ansehens der Universität in der Öffentlichkeit“ von seinem Psychologiestudium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena exmatrikuliert worden ist. Renate und Matthias fotografieren auch Texte ab, entwickeln die Fotos selbst und geben die vervielfältigten Texte weiter. Matz regt u. a. in der Jungen Gemeinde Diskussionen über die Fuchs-Texte an. Darüber informiert ein Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit, Pfarrer Michael „Constantin“ Stanescu (IM „Bartholomäus Runge“), den Sicherheitsapparat der DDR.

Über ihre Diskussionsfreudigkeit und ihr Interesse an kritischer Literatur hinaus ist bei Matz und seinen Freund:innen der Wille zur Mitgestaltung der Gesellschaft erkennbar. Im Januar 1976 erarbeiten sie vor dem IX. Parteitag der SED Anmerkungen und Fragen zum neuen Statut der Partei und bringen sie in eine öffentliche Konsultation in der SED-Kreisleitung ein. Im Frühjahr 1976 wendet sich der Freundeskreis mit einem fertigen Konzept und Programm für einen neuen Jugendclub in leerstehenden Räumen in der Greifgasse an die örtliche FDJ-Leitung.

Beide Versuche der Beteiligung werden abgeschmettert. 

Änderung des Lehrvertrages zur Ausbildung ohne Abitur, März 1977, ThürAZ, Sammlung Matthias Domaschk, Signatur: ThuerAZ-P-DoM-K-01.09
Änderung des Lehrvertrages zur Ausbildung ohne Abitur, März 1977, ThürAZ, Sammlung Matthias Domaschk, Signatur: ThuerAZ-P-DoM-K-01.09

Nach dem Ende der Ausbildung im April 1977 hat Matthias große Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle zu finden. Erst nach mehreren Monaten und zahlreichen Bewerbungen stellt das Zentralinstitut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie der Akademie der Wissenschaften (ZIMET) ihn als Maschinist für Lüftungsanlagen ein. Statt ein Studium aufzunehmen, arbeitet er nun im Schichtdienst im Heizungskeller.

Im Oktober 1977 folgt die Einberufung zur Nationalen Volksarmee (NVA). Stationiert wird er bei den Panzergrenadieren in Torgelow im Bezirk Neubrandenburg, eine Tagesreise von Jena entfernt. Am Tag seiner Einberufung schreibt er in einem Brief an seine Schwester, dass er Angst habe, „angst kaputt gemacht zu werden und angst davor, daß hier in jena alles kaputt ist wenn ich wiederkomme“

 

Matz (l.) mit Jochen Wich nach dem Haare schneiden, Oktober 1977, ThürAZ, Sammlung Jochen Wich, Signatur: ThuerAZ-P-WiJ-F-002
Matz (l.) mit Jochen Wich nach dem Haare schneiden, Oktober 1977, ThürAZ, Sammlung Jochen Wich, Signatur: ThuerAZ-P-WiJ-F-002

Die Haare lässt sich Matthias vor der Abreise nach Torgelow von seinem Freund Achim Dömel schneiden. Den 18 Monate währenden Grundwehrdienst bei der NVA erlebte Matz als desillusionierend: „ein tag leerer als der andere, grau und verloren - sie sagen, es muß sein, solange die anderen da sind/ sind sie anders, als die anderen/ verloren für immer/ tage.“

Im April 1979 kehrt Matthias zurück nach Jena, wo sich sein Freundes- und Bekanntenkreis aufgrund von Ausreisen in die Bundesrepublik rapide verkleinert hat. Seine ehemalige Partnerin Renate ist im August mit der gemeinsamen neun Monate alten Tochter Julia nach Nöbdenitz bei Gera gezogen, wo sie ihr Vikariat beginnt.

„vielleicht ist es ein sagenhafter lebenshunger“

1979 lernt Matthias Kerstin kennen, die in Kahla eine Ausbildung zur Keramformerin macht. Sie zieht zu ihm in die Wohnung Am Rähmen 3. Die beiden planen, im Oktober 1980 zu heiraten. Doch zwei Tage vor der Hochzeit wird Kerstin auf Grundlage des Strafrechtsparagrafen 249 – Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit – verhaftet. Das Kreisgericht Jena verurteilt sie wegen wiederholten Zuspätkommens und unentschuldigten Fehlens am Arbeitsplatz zu 10 Monaten Gefängnis.

Im August 1980 treffen sich Matthias und einige andere Jenaer aus dem Umfeld der Jungen Gemeinde Stadtmitte mit ausgebürgerten Freunden aus Jena in den polnischen Masuren. Von dort aus trampt Matz mit Peter Rösch nach Danzig, wo sie die Streiks der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnoşç miterleben.

Ab dem 11. April 1981 findet in Ost-Berlin der X. Parteitag der SED statt. Die MfS-Bezirks- und Kreisdienststellen haben unter der Losung „Kampfkurs X“ massive Sicherheitsmaßnahmen zur „vorbeugenden Verhinderung feindlich-negativer Aktivitäten“ ergriffen und den Befehl erhalten, potentiell Verdächtige, also mögliche Störer des Parteitages, nicht nach Berlin reisen zu lassen.

Matthias und Peter Rösch sind an diesem Wochenende zu einer Geburtstagsfete bei Freunden in Berlin eingeladen. Am Abend des 10. April nehmen sie den Schnellzug nach Berlin. Die beiden kommen bis Jüterbog im Bezirk Potsdam. Dort werden sie von der Transportpolizei aus dem Zug geholt und am Abend des nächsten Tages in die Untersuchungshaftanstalt des MfS in Gera überstellt. Hier werden sie bis zum Folgetag stundenlangen Verhören über ihre Verbindungen und vermeintlich staatsgefährdenden Aktivitäten ausgesetzt.

Nach massivem Schlafentzug und nächtelangen Verhören wird Matthias eine mehrjährige Haftstrafe angedroht. Die Alternative, die ihm mit einer Verpflichtungserklärung zur inoffiziellen Mitarbeit beim MfS angeboten wird, nimmt er an.

Kurz vor seiner Entlassung wird Matz ins Besucherzimmer gebracht, dort alleingelassen und später erhängt am Heizungsrohr aufgefunden.

 

Nachwirkungen

Als Matthias` Vater vom MfS über dessen Tod informiert wird, wird ihm nahegelegt, die Beerdigung in kleinem Rahmen stattfinden zu lassen, um eine Versammlung „negativer Kräfte“ zu vermeiden.

Die Nachricht von Matthias` Tod verbreitet sich dennoch schnell in der Stadt und in seinem stark vernetzten Freundes- und Bekanntenkreis auch über Jena hinaus. Auch den Termin der Trauerfeier bringen seine Freund:innen in Erfahrung. Die Staatssicherheit kann nicht verhindern, dass sie am Morgen des 16. April 1981 zum Nordfriedhof kommen. Freund:innen aus Jena fertigen ein Birkenkreuz für Matz, um auf dem Friedhof gut sichtbar an ihn und seinen Tod zu erinnern.

Birkenkreuz auf dem Nordfriedhof, ThürAZ, Sammlung Renate Ellmenreich, Signatur: ThuerAZ-P-ER-F-007
Birkenkreuz auf dem Nordfriedhof, ThürAZ, Sammlung Renate Ellmenreich, Signatur: ThuerAZ-P-ER-F-007

Ein Jahr später gelingt es Roland Jahn, Petra Falkenberg, Manfred Hildebrandt und Maria Diete außerdem, eine Traueranzeige in zwei Regionalzeitungen zu platzieren: Der Volkswacht und der Thüringischen Landeszeitung. Sie kaufen so viele Exemplare, wie sie bekommen können, schneiden die Anzeigen aus und kleben sie im Stadtgebiet an Laternen und Pfähle.

Für viele unangepasste junge Menschen bedeutet der Tod von Matthias einen weiteren Einschnitt in ihrem Verhältnis zur DDR. Manche ziehen die Konsequenz, nicht mehr in der DDR leben zu wollen und stellen Ausreiseanträge. Andere engagieren sich noch stärker als zuvor gegen politische Entscheidungen, gegen Leitlinien der SED und gesellschaftliche Missstände. Sie fordern die Einhaltung grundlegender Menschenrechte und Freiheiten ein. Unter anderem gründen Freunde von Matz um Roland Jahn in Jena die Unabhängige Friedensgemeinschaft, die sich für eine blockübergreifende Abrüstung im Kalten Krieg einsetzt.

ThürAZ, Sammlung Julia Ellmenreich, Signatur: ThuerAZ- F-EJ-005
ThürAZ, Sammlung Julia Ellmenreich, Signatur: ThuerAZ- F-EJ-005
Mitglieder der Jenaer Unabhängigen Friedensgemeinschaft am 18. März 1983, ThürAZ, Sammlung Carsten Hahn, Signatur: ThuerAZ-P-HC-F-001.14
Mitglieder der Jenaer Unabhängigen Friedensgemeinschaft am 18. März 1983, ThürAZ, Sammlung Carsten Hahn, Signatur: ThuerAZ-P-HC-F-001.14

Aufarbeitung

Ende November 1989 reichten Matthias` Vater und seine ehemalige Partnerin Renate Ellmenreich (geb. Groß) eine Klage gegen Erich Honecker und Erich Mielke bei der Generalstaatsanwaltschaft der DDR ein. Im Januar 1990 stellte Renate Ellmenreich in Thüringen Strafanzeige. Die Ermittlungen wurden 1994 eingestellt, da die Staatsanwaltschaft die Aussagen der Zeugen (auch der Vernehmer) als ausreichende Belege für einen Suizid bewertete. Ein später aufgenommener Prozess wegen Freiheitsberaubung führte zu Geldstrafen für sechs von zehn angeklagten ehemaligen Mitarbeitern des MfS.

Ab 2015 wurde der Fall erneut untersucht: Bei der Thüringer Staatskanzlei entstand eine Arbeitsgruppe, der neben Renate Ellmenreich Peter Rösch, der Rechtsanwalt Wolfgang Loukidis und der Historiker Dr. Henning Pietzsch angehörten. Die Recherchen der Arbeitsgruppe, die im Juni 2016 abgeschlossen wurden, nährten Zweifel an den Akten des MfS und einem Suizid.

Von 2020 bis 2022 beschäftigte sich der Journalist Peter Wensierski noch einmal intensiv mit der Biografie und den Todesumständen Matthias Domaschks. Er wertete über 60.000 Seiten Dokumente aus, darunter Akten aus dem Herrschaftsapparat der DDR, aber auch Selbstzeugnisse von Matthias` Familie, Freund:innen und Weggefährt:innen. Darüber hinaus führte Wensierski Interviews und Gespräche mit mehr als 150 Zeitzeug:innen, darunter auch ehemaligen Mitarbeitern des MfS, die an den Vernehmungen im April 1981 beteiligt waren. Nach umfangreichen Recherchen zeigt er auf, dass es sich um Selbstmord handelte, verursacht durch das repressive menschenverachtende System der SED-Diktatur, von dem das Ministerium für Staatssicherheit ein Teil war.

Seine Recherchen veröffentlichte Wensierski im März 2023 in Form des erzählten Sachbuchs „Jena Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk“. Die Interviews und zahlreiche Quellen zur Jenaer Szene um Matthias Domaschk von den 1970er bis Mitte der 1980er Jahre befinden sich im ThürAZ. 

Auf dem Jenaer Nordfriedhof befindet sich seit 2011 ein Ehrengrab im Urnenhain IIIa. 

"Jena-Paradies - Die letzte Reise des Matthias Domaschk" (Peter Wensierski, 2023)
"Jena-Paradies - Die letzte Reise des Matthias Domaschk" (Peter Wensierski, 2023)
Ehrengrab im Urnenhain auf dem Nordfriedhof in Jena, Foto: Christopher Straub
Ehrengrab im Urnenhain auf dem Nordfriedhof in Jena, Foto: Christopher Straub
Lage des Ehrengrabs auf dem Nordfriedhof, ThürAZ, Forschungssammlung, Sg: Fo-K-20.09
Lage des Ehrengrabs auf dem Nordfriedhof, ThürAZ, Forschungssammlung, Signatur: Fo-K-20.09

Weitere Publikationen zur Vita und zum Tod Matthias Domaschks:

Batz, Julia/ Klause, Matthias Olaf: Matthias Domaschk, hrsg. von der Gedenkstätte Amthordurchgang e. V., Gera 2012.

Ellmenreich, Renate: Matthias Domaschk. Die Geschichte eines politischen Verbrechens in der DDR und die Schwierigkeiten, dasselbe aufzuklären, hrsg. vom Landesbeauftragten des Freistaats Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Erfurt 1996.

Hildebrand, Gerold: Matthias Domaschk. Eine turbulente und unvollendete Jugend in Jena, in: Horch und Guck, Zeitschrift des Bürgerkomitees ‚15. Januar e. V.‘, Sonderheft 01/2003 zu Matthias Domaschk.

Klier, Freya: Matthias Domaschk und der Jenaer Widerstand, Berlin 2007.

Lenski, Katharina: Im Schweigekreis. Der Tod von Matthias Domaschk zwischen strafrechtlicher Aufarbeitung und offenen Fragen, in: Ganzenmüller, Jörg (Hg.), Recht und Gerechtigkeit. Die strafrechtliche Aufarbeitung von Diktaturen in Europa, Köln/Weimar/Wien 2017. 

Pietzsch, Henning: Jugend zwischen Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit in Jena 1970-1989, Weimar 2005.

Pietzsch, Henning: Matthias Domaschk 2.0. Suizid oder Mord in Stasi-Haft 81?, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 2019.

Reiprich, Siegfried: Der verhinderte Dialog. Meine politische Exmatrikulation, Berlin 2001.

Scheer, Udo: Vision und Wirklichkeit. Die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren, Berlin 2002. 

Strempel, Tino: Matz aus Jena. Drei Tage und ein Leben, Papendorf 2021.

Wich, Jochen/ Morgner, Martin: Das verlorene Leben des Matthias D. (Musiktheaterstück), Wiesbaden 2016. 

 

Online-Dokumentationen:

Pietzsch, Henning: Matthias Domaschk – das abrupte Ende eines ungelebten Lebens, in: Deutschland Archiv, 12.04.2021, https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/330728/matthias-domaschk-das-abrupte-ende-eines-ungelebten-lebens/.

Robert-Havemann-Gesellschaft Berlin: https://www.jugendopposition.de/themen/145330/der-fall-matthias-domaschk

Stasi-Unterlagen-Archiv im Bundesarchiv: https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/tod-in-stasi-u-haft/