Wie ein Freundeskreis junger Männer während des Kalten Krieges ins Räderwerk der Stasi und SED-Justiz geriet
Von Baldur Haase (Text als PDF)
Mehr als 15 Jahre ist es nun her, dass aus abertausenden Demonstrantenkehlen zwischen Rostock und Suhl der Ruf erschallte: „Stasi raus!“ Beherzte Bürgerinnen und Bürger besetzten überall im Land die Dienststellen des verhassten und lange Zeit gefürchteten Mielke-Ministeriums.
Beim Stöbern in Archiven früherer DDR-Tageszeitungen stößt der Interessierte recht häufig auf Berichte über politische Gerichtsverfahren, die ganz im Ton des damals üblichen, ideologisierten, pathetischen Propagandajargons gehalten sind. Wenn es darum ging, Angeklagte als „Feinde des Sozialismus“, „Handlanger der Imperialisten“, „Agenten und Saboteure westlicher Geheimdienste“ – und so weiter – zu beschimpfen, kam noch eine gehörige Portion Hysterie hinzu. Die Strafverfolgungsbehörden hatten keinerlei Skrupel, denjenigen, die in das Räderwerk ihrer Maschinerie geraten waren (aus welchen Gründen auch immer) den Stempel „Agent“ aufzudrücken. Es sei daran erinnert, dass sogar die Richter, von deren Berufsstand eine unparteiische Einstellung erwartet wird, in der DDR zum allergrößten Teil Mitglieder der SED waren, von Staatsanwälten ganz zu schweigen.
Fehlten handfeste Beweise für eine Verbindung zu westlichen Geheimdiensten, so half nicht selten die Stasi nach. In der ersten Hälfte der Existenz der DDR nicht selten mit brutaler Gewalt und später mehr mit anderen Mitteln unlauterer Art.
Diese bittere Erfahrung mussten 1951 elf junge Männer aus der Kleinstadt Ronneburg bei Gera machen. Im Alter zwischen 19 und 25 Jahren hatten sie sich zu einem zwanglosen Freundeskreis zusammengeschlossen. Sie besuchten gemeinsam Tanz-, Film- und Sportveranstaltungen und trafen sich in Gaststätten auch zu feucht-fröhlichen Stammtischrunden. Dabei blickten sie mitunter auch etwas zu tief in ihre Gläser, was ihnen eines Tages zum Verhängnis werden sollte.
Anklageschrift der 1. Großen Strafkammer des Geraer Landgerichts gegen Liebold u.a., Gera 24.4.1952, Bl. 1/3 [Quelle: ThürAZ, Sammlung Roland Liebold, Sg.: ThürAZ-P-LiR-K-01.01].
Am 20. Mai 1952 veröffentlichte die Zeitung „Volkswacht“, das Organ der Bezirksleitung Gera der SED, einen Artikel unter der Überschrift: „’Gespenster‘ als Provokateure und Verbrecher entlarvt“. Darin wird unter anderem behauptet, dass Anfang 1951 in Ronneburg eine illegale Gruppe des „berüchtigten ‚Bundes deutscher Jugend’“ (BdJ)1 gegründet worden sei. Dabei würde es sich um „Hilfstruppen des amerikanischen Geheimdienstes auf deutschem Boden“ handeln. Die beiden Anführer seinen ein Roland Liebold und ein Hans Lachheim gewesen. Liebold habe sich mehrmals mit dem Westberliner Pfandhausbesitzer Vogel getroffen und von ihm „Aufträge“ erhalten. Er habe ihn daraufhin unter anderem über die volkseigene Industrie Ronneburgs, die Stärke einer Einheit der Bereitschaftspolizei informiert sowie ihm „Namen fortschrittlicher Einwohner“ der Stadt übermittelt. Aber, das sollte noch lange nicht alles gewesen sein. Die Gruppe habe auch „Hetzschriften“ verbreitet und mit weißer Farbe staatsfeindliche Parolen an Mauern und Häuserwände geschmiert. Sie hätten Nazilieder gesungen und weiterhin die Einwohner beunruhigt und erschreckt, indem sich einige Mitglieder als Spukgestalten verkleideten und während der Dunkelheit auf Straßen und Gassen herumtollten. Damit waren jene Erscheinungen gemeint, über die Anfang der fünfziger Jahre gelegentlich in einzelnen Regionen gerüchteweise getuschelt wurde. Es handelte sich um die so genannten „Hüpfemänneln“ oder „Hüpfemänner“, die mitunter sogar Sprungfedern benutzt haben sollen und es zeitweilig zu einem sagenhaften Ruf brachten. Laut SED-Propagada sollen die Mitarbeiter des RIAS2 ihre Hände dabei im Spiel gehabt haben. Die Phantome hatten demnach nichts anderes im Sinn, als die Anweisungen dieses Hetzsenders auszuführen, die darin bestanden, die Bevölkerung zu verunsichern und somit den friedlichen Ausbau in der DDR zu sabotieren.
Anklageschrift (Bl. 2/3)
In dem Volkswacht-Artikel heißt es: Lediglich der Zugriff der Sicherheitsorgane verhinderte vorbereitete bewaffnete Überfälle und Sprengstoffattentate. Am Schluss der Aufruf: Seien wir deshalb wachsam und halten wir uns bereit, jedem Angriff der Friedensstörer zu begegnen. Dann werden wir ihre schändlichen Pläne zunichte machen.3
Der Beitrag weckte mein Interesse nachzuforschen. Wie war es wirklich gewesen? Könnte man damals Verurteilte ausfindig machen und befragen? Ein Blick ins Telefonbuch: einen Liebold, Roland gibt es in Ronneburg und er war zu einem Gespräch bereit. Er erzählte frei von der Leber weg. Und auch dadurch, dass er sich nicht bemühte, seine ostthüringische Mundart in ein gestelztes Hochdeutsch zu pressen, wirkte seine Erzählweise glaubwürdig. Zudem versuchte er keineswegs, die in jugendlichem Übermut und manchmal unter erheblichem Alkoholgenuss passierten Begebenheiten zu verschweigen. Aber, wie bereits vermutet: Spionage- und Sabotageakte, das Verteilen staatsfeindlicher Flugblätter, das Schmieren von Hetzparolen, das Gespensterspielen und geplante bewaffnete Überfälle hatte die Staatssicherheit erfunden.
Die Mitglieder des ausgelassenen, zwanglosen Ronneburger Jungmännerkreises waren der Staatsmacht willkommene Sündenböcke. Sie zu dem zu machen, was sie nicht waren, zu verurteilen, der Öffentlichkeit als Söldner des imperialistischen Klassenfeindes zu präsentieren und damit ein willkommenes Exempel zu statuieren, war damals eine politische Aufgabe der Machthaber der SED-Diktatur und kein Einzelfall. Die östlichen Kalten Krieger führten damit einen fanatischen Kampf nicht nur nach außen, sondern vor allem auch im Innern, gegen die eigene Bevölkerung.
Anklageschrift (Bl. 3/3)
Wir schreiben das Jahr 1951. Liebold, der gelernte Karosseriebauer und seine Freunde, leihen sich gelegentlich von einem Fuhrunternehmer, dem sie mitunter bei Reparaturarbeiten hefen, einen alten LKW aus. Damit klappern sie an Wochenenden die Gasthöfe und Tanzsäle der näheren und weiteren Umgebung ab. Bei nächtlichen Heimfahrten soll es vorgekommen sein, dass sie über die Stränge schlugen. Dabei sei auch manchmal ein nackter Hintern gezeigt worden. Ob man daraus eine strafbare Handlung wie „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ hätte ableiten können, ist nie untersucht worden. Ein unbekleidetes, menschliches Körperteil wurde von den bekanntlich in jeder Hinsicht etwas prüden sozialistischen Sittenwächtern in diesem Fall nicht als erotische, sondern als politische Provokation angesehen. Ein entblößter Männerhintern – eine Geheimwaffe des absterbenden Imperialismus in seinem Todeskampf vielleicht.
Wenn Liebold und seine Freunde einmal etwas zu viel über ihren Durst getrunken hatten, war es auch vorgekommen, dass sie das Nazi-Soldatenlied „Es zittern die morschen Knochen“ sangen, in dem die Zeile vorkommt: „Denn heute hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.“ Im Kino liefen damals ja, so Liebold in seinen Erinnerungen, meistens russische Filme, die den Sieg über Hitlerdeutschland und die Erfolge der Sowjetunion auf allen Gebieten propagierten. Da sei es halt passiert, dass er spontan „Hoi, Adolf“ gerufen habe, aber nicht, um seine Sympathie mit Hitler zu bekunden. Wörtlich meinte er: „Wir haben eben unseren Blödsinn gemacht und uns um Politik gar nicht gekümmert. Wir haben nicht draußen herumgeschrieen: ‚Wir wollen die DDR nicht.’“
In Ronneburg gab es damals den Polizeiwachtmeister K., der auf ihn nicht gut zu sprechen gewesen sei. Bei der Kontrolle öffentlichen Veranstaltungen habe er oftmals wenig Verständnis für die Jugend gezeigt. Er sei nicht geneigt gewesen, ab und zu ein Auge zuzudrücken, habe alles ein bisschen zu streng gesehen und rigoros gehandhabt. K. war fast immer mit seinem Hund unterwegs, der entweder schon zu alt war, oder für die Dressur zum Polizeihund nichts getaugt hatte. Personen, die er hätte anknurren müssen, leckte er unterwürfig die Füße ab. Deshalb sagte Liebold manchmal scherzhaft zu K.: „Du mit deinem Köter. Schaffe dir endlich mal einen richtigen Polizeihund an!“ Von altdeutscher Gendarmenmentalität war wohl auch so mancher Volkspolizist nicht rein gewaschen und so kam es, dass K. den Liebold und seine Kumpels mit immer grimmigeren Blicken bedachte.
Am 6. Oktober, es war ein Sonnabend, saß Liebold mit fünf Personen des Freundeskreises in einer Gastwirtschaft beim fröhlichen Umtrunk. Er war austreten gegangen, nicht mehr ganz nüchtern, und als er wieder zurückkam, bemerkte er einen Mann in blauer Uniform, der ihm den Rücken zudrehte, an der Theke stehen. Er nahm an, es handele sich um einen Landbriefträger und soll in kumpelhaftem Ton zu ihm gesagt haben (er selbst kann sich daran nicht genau erinnern), dass er keine leichte Arbeit habe mit dem Austragen von Post – oder etwas Ähnliches. Der Angesprochene war jedoch Polizist. Die Angehörigen der Volkspolizei trugen damals ebenfalls blaue Uniformen, was leicht zu Verwechslungen mit anderen Berufsgruppen führen konnte. Diese harmlose, keineswegs beleidigend gemeinte Äußerung, führte nur durch einen Zufall dazu, dass ein folgenschweres Verhängnis seinen Lauf nahm. Der Polizist war als friedfertig bekannt, kein zweiter K. und hätte wohl darüber hinweggesehen, dass ihn ein angeheiterter Gast aus Versehen degradierte. Nun hätte man, wären auch in diesem Fall die Lehren von Marx, Engels, Lenin (und damals noch Stalin) zu Rate gezogen worden, darauf verweisen können, dass in einem Land, in dem die antagonistischen Klassengegensätze beseitigt waren, jeder Berufsstand Ansehen genieße, ganz gleich ob Klofrau, Parteisekretär oder Minister. Aber ein tragischer Zufall hatte es an jenem Abend gewollt, dass sich unter den Gästen ein Kriminalpolizist befand, der, sicher noch von altem Schrot und Korn, anderer Meinung war. Er schritt sofort ein und verlangte von dem eher nachlässigen Vertreter der bewaffneten Organe, die erniedrigende Beschimpfung nicht auf sich sitzen zu lassen und den Übeltäter aufs Revier zu bringen. Widerwillig soll dieser sich der Aufforderung gefügt haben. Liebold fand sich auf der Wache wieder, wo, zu allem Unglück, auch K. an jenem Abend Dienst hatte. Der weitere Verlauf der Geschehnisse, bis hin zur Gerichtsverhandlung fünf Monate später, sollte es ihm ermöglichen, es dem Liebold und den anderen Lästerzungen heimzuzahlen. Erleichtert wurde ihm dies, weil die restlichen Mitglieder der Stammtischrunde auf den unglückseligen Einfall kamen, zur Polizeiwache zu ziehen und dort die Freilassung ihres Kumpels zu fordern. Schließlich hatte er ja nichts weiter verbrochen, nichts zerschlagen, keinen Streit angefangen und erst recht keine Rauferei. Führend bei dieser Protestaktion soll Heinz, Liebolds Cousin, gewesen sein. Ob er dies Kraft seines Amtes als Angehöriger der Bereitschaftspolizei tat, ist nicht belegt. Angeblich kam es zu einem Handgemenge mit K., wobei Heinz verletzt wurde. Liebold sah, dass „das schöne weiße Hemd“ seines Verwandten voller Blut war und versuchte deshalb, dem Verursacher an den Kragen zu gehen. Inzwischen war es anderen Wachtmeistern gelungen, das Überfallkommando in Gera zu alarmieren. Es rückte an und beendete schlagartig den eskalierten Streit. Das Ereignis als solches hätte durchaus auch in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, wie der Bundesrepublik, ein gerichtliches Nachspiel haben können. Allerdings wäre kein Staatsanwalt auf die Idee gekommen, dafür Freiheitsstrafen von zwei bis acht Jahren zu beantragen, wie es in Gera geschah, nachdem die Stasi genügend Beweise zurechtgezimmert hatte. Wenn man sich die 20 Seiten der Anklageschrift durchliest, stellt man erstaunt (oder auch nicht) fest, dass dem eigentlichen strafbaren Verhalten – Widerstand gegen polizeiliche Maßnahmen und gegebenenfalls auch Beleidigung – lediglich 20 Zeilen gewidmet sind. Der letzte Satz könnte einer Formulierung Ernst Melsheimers4 entnommen worden sein, womit dieser in Schauprozessen gegen Staatsfeinde, nach der von den Nazis übernommenen Manier vorging.
Zitat: Während unsere Jugend einen wesentlichen Anteil an dem Friedenskampf des deutschen Volkes und der Planerfüllung in unserer Deutschen Demokratischen Republik hat, wurden die Angeschuldigten zu Handlangern des amerikanischen Imperialismus und ihren deutschen Lakaien. Sie machten sich mitschuldig an der Vorbereitung eines neuen amerikanischen Krieges. Sie fielen dem Friedenskampf und dem Aufbauwillen der werktätigen Bevölkerung in den Rücken. Sie muss deshalb eine gerechte und harte Strafe unserer demokratischen Gesetzlichkeit treffen. … gez. Schulze.5
Als Liebold am Tag nach dem Vorfall zum Sportplatz ging, stellte er fest, dass die Geschehnisse auf der Polizeiwache bereits Stadtgespräche waren. Am 10. Oktober erschienen in seiner Geraer Arbeitsstelle, der der bekannten Privatfirma Fleischer, Karosseriebau, zwei Kriminalpolizisten, die ihn aufforderten, zu einer Befragung mitzukommen. Einem Vorgesetzten Liebolds sagten sie, der Kollege werde in einer Stunde wieder zurück sein. Aus dieser Stunde sollten mehr als fünf Jahre werden. Wie kam es dazu, dass ein politischer Prozess inszeniert wurde?
Liebold erzählt die Vorgeschichte: Anfang 1951 begannen die Vorbereitungen auf die III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten, die im August in Berlin stattfinden sollten. Bei Fleischer gab es keine FDJ-Gruppe6 und nur zwei Lehrlinge waren Mitglieder des Jugendverbandes. Liebold, damals 22 Jahre alt, war nicht in der FDJ, wollte sich aber eine kostenlose Reise nach Berlin nicht entgehen lassen, trat ein und machte sogar eine kleine, ehrenamtliche Karriere als Gruppenleiter. In der Festivalstadt angekommen, fuhr er mit seinen beiden Kollegen F. und B. von Ost- nach Westberlin, das er noch nie gesehen hatte. Lediglich F. kannte sich hier aus, wegen damals üblicher Schiebergeschäfte. In einer Kneipe am Kurfürstendamm kamen die drei abtrünnigen Jugendfreunde mit dem eingangs erwähnten Herrn Vogel ins Gespräch, der ihnen erzählte, Gera gut zu kennen. Sie unterhielten sich über dies und das und er spendierte ihnen, da sie kein Westgeld besaßen, ein paar Drinks. Beim Abschied gab er ihnen seine Adresse und meinte, wenn wieder jemand von ihnen nach Berlin komme, so würde er sich über einen Besuch freuen. Der Zufall wollte es, dass sich dazu bald wieder Gelegenheit ergab. Liebold fuhr im September mit einer Betriebsdelegation offiziell zu einer Automobilausstellung nach Westberlin. Das war damals noch möglich. Einem ältern Kollegen, dem 1908 geborenen Martin P., erzählte er von seiner Bekanntschaft mit Vogel und schlug ihm vor, diesen mit zu besuchen, denn er würde sicher wieder etwas springen lassen. Vogel freute sich und lud beide zu einem Umtrunk ein. Aufträge, ihm Informationen aus der DDR zuzuarbeiten, wie von der Stasi erfunden, gab er ihnen nicht. Dieses kurze Zusammentreffen brachte dem P. zwei Jahre Zuchthaus ein, denn Vogel war nach Feststellung der Stasi ja ein „imperialistischer Agent“. Unabhängige Strafverteidiger, die derartige Behauptungen hätten widerlegen können, gab es in der DDR nicht, und Vogel wäre, hätte er als Entlastungszeuge aussagen wollen, gleich verhaftet worden.
Liebold litt sehr darunter, den Kollegen P. in die Sache mit hineingezogen zu haben. Nach dem Vorfall mit dem angeblichen Landbriefträger in der Ronneburger Gastwirtschaft verhaftete die Staatssicherheit bis zum Januar 1952 zwölf Personen. Zwei Kollegen Liebolds, dem F. und dem B., gelang die Flucht nach Westberlin, wobei es mit F. noch eine besondere Bewandtnis hatte. Er verspürte nach einiger Zeit Heimweh und sein Vater, ein überzeugter Kommunist, erhielt nach Vorsprache bei der Staatsanwaltschaft die Zusage, dass sein Sohn straffrei ausgehe, wenn er freiwillig zurückkehre. Aber mit Ehrenwörtern unter kommunistischen Glaubensbrüdern scheint es nicht weit her gewesen zu sein. Wie sonst hätte es passieren können, dass die Stasi am Weihnachtsabend 1952 am Tannenbaum der Familie F. in Gera erschien und den reumütigen Sohn in eine Behausung brachte, in der es keine Pfefferkuchen, sondern lediglich trockenes Brot zu naschen gab? Ihm sollte nun auch der Prozess wegen Spionage gemacht werden und als Zeuge wurde der inzwischen abgeurteilte Liebold herbeibefohlen. Aber Liebold, dem in seiner Weimarer Untersuchungshaft ein Stasimann namens Koch das Nasenbein zerschlagen hatte,7 drohte, vor Gericht auszusagen, mit welchen Mitteln seine Geständnisse erpresst wurden. „Mir kann nichts mehr passieren, wenn ich jetzt die Wahrheit sage, ich bin abgeurteilt“, hatte er einer Staatsanwältin und einem Staatsanwalt bei dem Vorbereitungsgespräch angedroht. Und das, obwohl sie ihn mit Zigaretten willfährig zu stimmen versuchten. Er kam zurück in den Strafvollzug nach Untermaßfeld und erfuhr später, dass F. lediglich wegen Wirtschaftsvergehen (seine Schiebergeschäfte betreffend) und nicht wegen politischer Straftaten angeklagt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Während der Untersuchungshaft, zunächst in Weimar und ab März 1952 Gera, gab Liebold schließlich zu, was man von ihm wissen wollte. Er und andere Mitangeklagte widerriefen dann vor Gericht (allerdings erfolglos) ihre unter Gewaltanwendung erpressten Aussagen. Es soll nicht verschwiegen werden, dass den Schläger Koch8 (nach Liebolds Feststellung war er wahrscheinlich der Anstaltsleiter in Weimar) seine gerechte Strafe ereilte. Im Zuchthaus Brandenburg sah er ihn wieder. Er trug ebenfalls Sträflingskleidung. Aufmerksam gemacht hatte ihn ein anderer Gefangener, ein ehemaligen Polizeioffizier aus Weimar. Der Hinweis auf Kochs Bestrafung darf allerdings nicht zu der Annahme führen, dass dies die Regel gewesen sein könnte. Folter und andere Misshandlungen während der Haft blieben selbst nach der Wiedervereinigung größtenteils ungesühnt, da es den Betroffenen nicht möglich war, Beweise oder Zeugen vorzulegen, bzw. zu benennen. Hinzu kamen die mangelhaften Kenntnisse westdeutscher Untersuchungsbeamter, die Lebensverhältnisse in der DDR betreffend. So wäre Liebold fast aus der Haut gefahren, als ihn nach 1990 ein mit seinem Fall betrauter Mitarbeiter der zuständigen Staatsanwaltschaft fragte, warum er nicht damals schon Anzeige erstattet habe. „Die scheinen doch gar nicht zu wissen, was damals hier los war. Von wegen anzeigen, da wäre ich doch gleich wieder abgegangen“, ist sein Kommentar dazu.
Liebold nahm, während des aufgezeichneten Interviews, zu den einzelnen Anklagpunkten Stellung. Die Kontakte mit Vogel waren rein privater Natur gewesen und eine Organisation Bund deutscher Jugend war ihm – und ist ihm bis heute unbekannt. Demzufolge gab es auch keine Zusammenarbeit. Von Vogel hatten sie auch keine Flugblätter mit Hetze gegen die DDR erhalten und deshalb auch nicht in Umlauf bringen können. Der Bürgermeister von Ronneburg, der als Zeuge vor Gericht entsprechende Vorwürfe entkräftete, wurde, wie Liebold später erfuhr, seines Amtes enthoben. Auch als Hüpfemänneln hatten sie sich nicht verkleidet, nicht Gespenster gespielt und somit niemanden daran gehindert, fortschrittliche Veranstaltungen zu besuchen. Aufträge dazu hätten sie angeblich vom RIAS erhalten, ebenso seien sie von dort zur Spionagetätigkeit verleitet worden. Sogar der Vorfall mit dem vermeintlichen Landbriefträger hatte nun politische Dimensionen angenommen, denn die Stasi hatte durch ihre bekannten Methoden bewiesen, dass Liebold den Auftrag von Agentenzentralen erhalten hatte, die Staatsorgane entsprechend zu provozieren. Liebold dazu: „Ich weeß gar nich‘, wo der RIAS in Westberlin gewesen sein soll.“
Die Hauptverhandlung gegen die zwölf Angeklagten begann am 15. Mai 1952 um acht Uhr vor der 1. Großen Strafkammer des Geraer Landgerichts. Zwei der Angeklagten waren sogar Mitglieder der SED. Zitate aus der Urteilsbegründung, die für sich sprechen: … In skrupelloser Weise wurden hier Jugendliche mit Hilfe des Hetzsenders RIAS in die Westsektoren gelockt. … Auch in dieser Strafsache wurden junge Menschen durch Riashetze zu Verrätern ihrer Heimat und Elternhaus. … Auch diesem Vorschlag stimmten die Angeklagten bei und als Gespenst wurde I. vorgesehen. Der Angeklagte I. war dazu auch bereit und zeigte sich nachts in den Straßen von Ronneburg und sprang in grotesken Sprüngen mit entsprechenden Lauten vorübergehenden Passanten entgegen, dass diese unter Schreckensrufen in alle möglichen Richtungen davonliefen. … Weitere Beweise liegen in den Protokollen der Ermittlungsbehörde, wonach alle Angeklagten ein offenes Geständnis ablegten und dieses vom Gericht zum Gegenstand der Verhandlung gemacht worden ist. Wenn trotzdem die Angeklagten in der Hauptverhandlung die vor dem Ermittlungsorgan gemachten Aussagen widerriefen und behaupteten, dass die Aussagen unter Zwang oder unmenschlichen Verhören von ihnen unterschrieben wurden, so ist das darauf zurückzuführen, weil die Angeklagten Gelegenheit hatten, sich untereinander abzusprechen. Hinzu kommt die Beeinflussung durch andere Verbrecher, die mit den Angeklagten in einer Zelle saßen und diesen jungen Menschen einflößten, nur nichts zuzugeben. … 9
Das Gericht verhängte gegen elf der Angeklagten (ein Verfahren war abgetrennt worden) Zuchthausstrafen und Sühnemaßnahmen. Zugrunde lagen der Artikel 6 der DDR-Verfassung vom Oktober 1949 „Boykotthetze“ sowie die Kontrollratsdirektive 38, durch die Straftaten der Nazis geahndet wurde. Roland Liebold und Hans Lachheim erhielten als ausgemachte Rädelsführer je acht Jahre. Drei weitere Angeklagte wurden zu je vier Jahren und zwei zu je drei Jahren verurteilt. Vier der Gruppe kamen mit je zwei Jahren davon. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass das Gericht bei den Strafzumessungen der zu vier und drei Jahren verurteilten, damit unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft blieb, die jeweils fünf Jahre gefordert hatte. Dennoch hatte dieser Prozess, wie viele andere davor und danach, keinen rechtsstaatlichen Charakter. In diesem Zusammenhang kann ein Blick auf die damaligen Rechtsgrundlagen aufschlussreich sein. In der DDR galt bis 1952 das Reichsjugendgerichtsgesetz von 1943. Ab Juni 1952 wurde es durch das Jugendgerichtsgesetz abgelöst. Lagen Mord, Sabotage, Vergewaltigung und Boykotthetze vor, war jedoch, nach Paragraph 24, das allgemeine Strafrecht anzuwenden. Bei der Verurteilung wegen derartiger Straftaten war es möglich, sogar Jugendliche (14 bis 18) zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen zu verurteilen. Lediglich die Todesstrafe war ausgeschlossen. Den Begriff „Heranwachsende“ (18 bis 21), wie ihn das bundesdeutsche Strafrecht kennt und der zu Milderungen gegenüber erwachsenen Straftätern führen kann, gab es in der DDR nicht.
Wer, wie Liebold, aus dem Kreis der damals Verurteilten, nach 1990 Antrag auf Rehabilitierung und Haftentschädigung stellte, dem wurde dies auch gewährt. Zwei der Betroffenen erlebten den Untergang der SED-Herrschaft und ihrer Staatssicherheit allerdings nicht mehr.
Während meines letzten Besuches bei Roland Liebold, im Februar 2005, kam ich aus dem Lachen kaum heraus. Er ist ein Spaßmacher geblieben, trotz der zerschlagenen Nase und der fünf Jahre im Zuchthaus, die er dieser Eigenschaft zu verdanken hat.
Anmerkungen
1 Bund deutscher Jugend: eine 1953 in der Bundesrepublik verbotene Organisation.2 Rundfunk im amerikanischen Sektor.3 Volkswacht vom 20.05.1952; Artikel: „Gespenster“ als Provokateure und Verbrecher entlarvt.4 Ernst Melsheimer (1997 – 1960), früherer NS-Jurist, von 1949 bis zu seinem Tode Generalstaatsanwalt der DDR.5 Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“(ThürAZ): BH-K-03.01.09 Bl.1 (Eröffnungsbeschluß 1952).6 FDJ: Freie Deutsche Jugend, Staatsjugend der DDR.7 ThürAZ: ZeZe-L-01.05, Interview mit Roland Liebold vom 29.034 und 25.10 1997; S.10.8 Finn, Gerhard: „Die politischen Häftlinge in der Sowjetzone 1945.1959“ , Zitat: „Bei Koch handelt es sich um den MfS Kommandeur Kurt Koch, der kurze Zeit später zu sech Jahren Zuchthaus wegen Körperverletzung im Amt verurteilt wurde.“9 ThürAZ: BH-K-3.06 ( Urteilsbegründung vom 11.07.1952).