Pfarrer Werner Ross, geboren 1941 in Elbing/ Westpreußen, gehört zum ersten Jahrgang, welcher nach der Gründung der Nationalen Volksarmee 1956 und der Einführung der Wehrpflicht 1962 gemustert wird. Nachdem er vor dem Wehrkreiskommando Arnstadt erstmals im März 1962 seine Wehrdiensttotalverweigerung erklärt, schriftlich wiederholt am 11.9.1963, folgt vier Jahre später die Einberufungsüberprüfung und am 2.11.1967 – circa 14 Tage nach seinem Ersten Theologischen Staatsexamen – die Verhaftung wegen Kriegsdienstverweigerung. Das Militärgericht Erfurt verurteilt Ross zu einer zweijährigen Haftstrafe, welche er nach der Untersuchungshaft in Erfurt im Haftarbeitslager Unterwellenborn/ Maxhütte und in der Haftanstalt Berlin-Rummelsburg verbüßt. Wohl aufgrund der Aufnahme von Ross in die Fürbittlisten verschiedener Landeskirchen in Ost und West im Sommer 1968, einer internationalen Aktion von Amnesty International und zuletzt nach Bemühungen des Thüringer Landesbischofs Moritz Mitzenheim auf vorzeitige Haftentlassung, wird Ross am 14.05.1969 gegen seinen Willen über den Häftlingsfreikauf der Bundesrepublik (BRD) über das Stasi-Gefängnis auf dem Kaßberg in Karl-Marx-Stadt entlassen.
In 24 Ordnern mit Korrespondenz und Unterlagen bis 2017 werden eindrücklich die Stationen des Lebens von Werner Ross dokumentiert. Von besonderem historischem Wert sind zwölf Ordner zu den Gründen der Totalverweigerung, der Haft und den Folgen. Neben den Unterlagen seiner Wehrdienstverweigerung, Korrespondenz mit dem Landeskirchenamt Thüringen und der Nationalen Volksarmee betreffs Rückstellung vom Wehrdienst 1967, befindet sich hier unter anderem auch ein umfangreicher Ordner mit Haft-Korrespondenz mit dem engsten Familienkreis. Dieser enthält neben Privatem vor allem zensierte und selbstzensierte Einschätzungen zur Haftsituation und den Auswirkungen auf das Arbeits- und Familienleben, aber auch wissenschaftliche Reflektionen zu theologischen Fragen als Informationsvermittlung und Brücke nach außen. Von den zahlreichen Briefen der Kommilitonen und von Personen aus dem Ausland durch die Amnesty International-Aktion sind nach der Haft nur wenige an Ross ausgehändigt worden und somit erhalten. Sechs Ordner mit Unterlagen und Korrespondenz, aus dem Exil ab 1969, mit der Familie, mit Kirchenvertretern, mit Lothar Kreyssig/ Bekennende Kirche und Mitstreitern bei Aktion Sühnezeichen bilden die persönlichen, sozialen und beruflichen Folgen von Haft, Zwangsausbürgerung und der unfreiwilligen Trennung von Familie, Lebensumfeld und Lebensfeld eindrücklich ab, darunter Reiseverbote und die Verschleppung des Nachzuges der Ehefrau bis zur Entfremdung. Weitere Unterlagen sind die Vollzugsakte zum Freiheitsentzug wegen Wehrdienstverweigerung, Operativmaterial des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR von 1967 bis 1971 und Korrespondenz zur Rehabilitierung und Entschädigung von Ross 1993 nach dem Ersten SED Unrechtsbereinigungsgesetz von 1992. Drei Ordner „Wehrdienstverweigerung“ mit Materialien aus den Jahren 1928 bis 2016 enthalten neben persönlich/familiären Unterlagen und Korrespondenzen zahlreiche thematische Drucksachen zu Weltkriegen und Militärdienst, Konflikte der Christen zwischen Glaubensbekenntnis und staatlich geforderter Weltanschauung, Seelsorgeauftrag der Kirchen und Wehrpflicht, und ähnliches.
Weitere Stationen des Lebens von Werner Ross werden in 16 Ordnern mit Korrespondenz und Unterlagen zu Familiengeschichte, beruflichem Werdegang und gesellschaftspolitischem Engagement festgehalten. Kindheit und Schulzeit verbringt Ross nach der Umsiedlung der Familie im Jahr 1947 in Plaue/ Thüringen. Einer Ausbildung und Tätigkeit als Fernmeldemechaniker folgt 1962 ein Theologiestudium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Humboldtuniversität Berlin. Die Studienunterlagen enthalten auch die Staatsexamensarbeit „Die Haltung der Bekennenden Kirche zur ‚Politik‘ des Hitlerfaschismus gegenüber dem Judentum“. Ab 1962 engagiert sich Ross zudem stark bei Aktion Sühnezeichen (ASZ), an dessen Sommerlagereinsätzen er teilnimmt und zu dessen Vorstand er von 1964 bis zu seiner Verhaftung 1967 gehört. So nimmt Ross 1965 an der Fahrradpilgerfahrt nach Auschwitz teil und übernimmt 1966 die Leitung eines ASZ-Lagers in Auschwitz. Dies ist in Briefen, Bescheinigungen und Fotografien überliefert. Nach der Zwangsausweisung in die BRD über das Notaufnahmelager Gießen und die Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge in Rastatt/Baden, absolviert Ross ab 1969 den kirchlichen Vorbereitungsdienst/ Vikariat in Mannheim und ist von April 1971 bis März 1972 als Beauftragter der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) in Auschwitz/ Polen und in Oslo/ Norwegen tätig. Es folgen Anstellungen als Gemeindepfarrer, ab 1973 in Ettlingen, ab 1980 in Freiburg-Tiengen und ab 1991 als Religionslehrer in Heitersheim und Lörrach. Unter zahlreichem dienstlichem Material sind hier auch Unterlagen aus der Auseinandersetzung mit den beiden deutschen Staaten enthalten, wie eine Stellungnahme zum Kommunismus, welche Ross aufgrund einer Beschwerde in Ettlingen 1978 verfasste. In den Jahren 1980er und 90er Jahren engagiert sich Ross als kirchlicher Verfahrensbeistand der Ev. Landeskirche Baden für Kriegsdienstverweigerer aus Gewissengründen. Seit dem Jahr 2003 ist Werner Ross Pfarrer in Ruhestand.
Mehrere Dokumentationen von/ zu Werner Ross ergänzen den Bestand. Enthalten sind zwei Radiofeatures von Radio Lotte Weimar aus der Reihe „Sektfrühstück“ mit Elsa Ulrike Ross 2005 und mit Werner Ross 2006; eine Dokumentation der Preuss Filmproduktion „Leise gegen den Strom“, Berlin 2008, zur Pilgerfahrt der Aktion Sühnezeichen DDR von Görlitz nach Auschwitz/ Polen 1965; eine unveröffentlichte autobiografische Dokumentation von Werner Ross „Per Bus in die Freiheit – unfreiwillig. Gedanken – Tatsachen – Fragen“, Rheinfelden 2019; sowie eine Forschungsarbeit von Jonas Heber mit dem Titel „Briefe aus dem Gefängnis. Eine Untersuchung der Zensur an den Briefen des Werner Ross von 1967 bis 1969 in den Haftanstalten Unterwellenborn und Berlin Rummelsburg“, Jena 2019.