Die Geraer Offene Arbeit 1978–1981
Von Reiner Merker1 (Text als PDF)
Störfaktor „Offene Arbeit“
Am 22. April 1981, zehn Tage nach dem Tod des Jenaer Jugendlichen Matthias Domaschk in der MfS-Untersuchungshaftanstalt Gera2, fand eine „Aussprache“ zwischen dem Stellvertreter für Inneres des Rat des Bezirkes Gera Georg Krätzschmar, der Referentin für Kirchenfragen der Stadt Gera Ursel Maihorn und Oberkirchenrat Christoph Thurm statt. Dabei ging es aber nicht etwa um den Tod Domaschks, der Anlass bestand vielmehr in der Planung des Greizer Regionalkirchentages und den Befürchtungen, dass dort Gruppen der Offenen Arbeit in Erscheinung treten könnten. Als OKR Thurm im Verlauf des Gesprächs den Tod Domaschks ansprach, mußte die Referentin für Kirchenfragen konstatieren: „Leider war es so, daß weder Gen. Krätzschmar noch ich über die wirkliche Lage und den Sachverhalt informiert war. Dies war ein ernster Mangel für die Führung des Gesprächs.“3
In Bezug auf den Greizer Regionalkirchentag waren sich beide Seiten schnell einig, alles „Undurchsichtige und Negative“ sofort zu unterbinden.4 In Gera selbst hatte sich jedoch die Situation durch den Tod Domaschks aus staatlicher Sicht erheblich verschärft.

Seit Anfang 1980 war es hier zu Auseinandersetzungen zwischen der Geraer Kirchenleitung und dem Jugendwart Wolfgang Thalmann hinsichtlich der Orientierung kirchlicher Jugendarbeit gekommen. Während Thalmann das Konzept der Offenen Arbeit vertrat, wurden insbesondere von Superintendent Otto Heinrich Müller traditionelle Ansätze kirchlicher Jugendarbeit eingefordert. Der Konflikt eskalierte im März 1981 und mündete in der Kündigung des Jugendwarts. Eine der letzten von Thalmann vorbereiteten Veranstaltungen, die Werkstatt „Unsere Stätte – laßt uns Wirken“, sollte am 9. Mai 1981 stattfinden.
Vor diesem Hintergrund lud die Referentin für Kirchenfragen den Jugendwart am 28. April 1981 zu einer „Aussprache“ bezüglich Inhalt und Ablauf der Werkstatt vor. Im Anschluß wurde Thalmann zur aktuellen Situation nach dem Tod von Matthias Domaschk befragt. „Es wurde Thalmann unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß wir mit aller Konsequenz gegen irgendwelche Äußerungen vorgehen werden und daß die Kirche die Folgen zu tragen hat, wenn es zu Konfrontationen kommt.“5
Insbesondere durch die erwartete Teilnahme der Pfarrer Walter Schilling und Uwe Koch sowie Jenaer Jugendlicher, befürchtete die Referentin für Kirchenfragen, dass die Werkstatt zu „Demonstrationshandlungen“ genutzt werden könnte. Dies deckte sich mit der Einschätzung von Superintendent Müller, der deshalb beabsichtigte, sich am 09. Mai im Lutherhaus in Gera-Untermhaus, dem Veranstaltungsort, aufzuhalten, um eventuell eingreifen zu können.
Ob und wie der Tod Domaschks sich in der konkreten Ausgestaltung der Werkstatt niederschlug, muß gegenwärtig offenbleiben. Lediglich die Teilnehmerzahl ist auf ca. 300 Personen zu beziffern. Kreiskirchenrat Martin Kirchner gab im Nachgang zu Protokoll, dass diese vor allem solchen Gruppierungen angehörten, „auf die die Kirche selbst keinen großen Wert legen kann.“6
Bereits dieser Ausschnitt der Auseinandersetzung um eine Veranstaltung in der Endphase der Geraer Offenen Arbeit lässt die Grundzüge der Bedeutung dieses Zweiges kirchlicher Jugendarbeit in der SED-Diktatur sichtbar werden.
In der Einschätzung staatlicher Stellen und der Geraer Kirchenleitung bestand hier die Möglichkeit einer nur bedingt kontrollierbaren öffentlichen Artikulation. Den Rahmen dafür bildete die Kirche bei gleichzeitiger Einbindung in ein überregionales Netzwerk jugendlicher Subkultur. Die Offenen Arbeit hatte es vermocht kirchenferne Jugendliche anzusprechen und damit den Kreis der Akteure innerhalb der Jugendarbeit beträchtlich zu erweitern. Zudem handelte es sich nicht mehr um vereinzelte Versuche kritischer Artikulation sondern um einen kontinuierlichen Freiraum des Austauschs, der Diskussion und Selbstentfaltung Jugendlicher. Das Verstoßen gegen gesellschaftliche Normen wurde dabei von den Trägern der Offenen Arbeit im Sinne des Wirkens für Jugendliche bewußt in Kauf genommen7 und sogar eingefordert8.
Der folgende Beitrag soll auf der Grundlage der Konzeption der Offenen Arbeit und im Kontext der Haltung der Geraer Kirchenleitung die konkrete Ausformung in Gera untersuchen. Mit der Thematik der Asozialität Jugendlicher wird beispielhaft einer der Grundkonflikte mit Staat und Kirchenleitung beleuchtet. Dabei wird noch einmal deutlich, dass die Institution Kirche zwar die Chance des Freiraums bot, die Wahrnehmung aber unmittelbar von den jeweiligen Entscheidungsträgern abhing.
Das Konzept
Bereits in den 60er Jahren hatte es erste Impulse für die „methodische Modernisierung der kirchlichen Jugendarbeit“9 gegeben. So fand erstmals 1963 in Karl-Marx-Stadt ein „Gottesdienst einmal anders“ statt.10 In der Folge wurden neue Formen einer auf die Interessen Jugendlicher ausgerichteten Arbeit entwickelt, bspw. durch die Integration moderner Musik, wie Blues oder Beat in Jugendgottesdienste. Entscheidend für die Entwicklung der offenen kirchlichen Jugendarbeit, später Offene Arbeit, war aber der Schritt, kirchliche Räume Jugendlichen zu öffnen, die zunächst keinen Bezug zu Kirche hatten. Grundlage war die Akzeptanz jugendlicher Subkulturen und der Verzicht auf das Bekenntnis zum Glauben als Voraussetzung der Nutzung kirchlicher Räume. Als Ziel wurde die freie Entfaltung der Jugendlichen in einer offenen Atmosphäre formuliert.11 „Für eine Neuorientierung braucht jeder Mensch ein Gegenüber, der Anstösse gibt. Diese Anstösse müssen, um eine neue Orientierung zu erlangen in einem Freiraum geschehen. Dieser Freiraum ist notwendig zur Selbstfindung. Erst wenn ich weiß, wo ich stehe, kann ich meinen Weg weitergehen, korrigieren, verändern. Insofern ist Selbstfindung die Voraussetzung für alles folgende.“12
Neben der freien Entfaltung der Persönlichkeit und der Schaffung von Freiräumen in der „Organisationsgesellschaft“13 sollte aber immer auch die Möglichkeit der Begegnung mit dem Glauben stehen. Im Sinne einer offenen kirchlichen Jugendarbeit stand dies jedoch nicht an vorderster Stelle. Der Leipziger Pfarrer Claus-Jürgen Wizisla hatte 1972 sogar formuliert, dass „keine Vereinnahmung der Jugendlichen in die Kirche, keine Manipulation durch repressive Verkündigung“ stattfinden dürfe.14 Fast zehn Jahre später heißt es dann in einem Schreiben Thalmanns an den Geraer Superintendenten Müller: „In dem Sinne heißt Verkündigung Möglichkeiten zu schaffen, wo man sich mit dem Evangelium auseinandersetzen kann, ohne den Freiraum der eigenen Entscheidung zu verengen.“15 In diesem Rahmen bewertete er die „Begegnung mit der Bibel als eine Orientierungsmöglichkeit“16 für die Jugendlichen in der Offenen Arbeit.
Eines der wesentlichen Merkmale im Unterschied zur traditionellen kirchlichen Jugendarbeit war die Selbstorganisation. Durch die aktive Gestaltung der Jugendlichen bildete sich ein „Artikulations- und Verwirklichungsraum“17. Damit stand das Konzept in einem grundsätzlichen Kontrast zur Ausbildung der „sozialistischen Persönlichkeit“, einer Persönlichkeit der Anpassung an das System des „realen Sozialismus“.
Die ursprüngliche Intention eines seelsorgerischen und lebenspraktischen Angebotes für Randgruppen18 im Sinne einer Reintegration in die Gesellschaft trat in den Hintergrund. Dieses wurde durch die Erkenntnis bestärkt, dass der Anspruch auf Selbstverwirklichung nicht ohne Veränderung der einengenden gesellschaftlichen Strukturen möglich sei. Walter Schilling beschrieb dies auf dem Kirchentag von Unten 1987 in Berlin folgendermaßen: „Irgendwo stößt man an eine Grenze. Es geht nicht anders, wenn man es ernst nimmt, – es muß auch ein Stück Gesellschaft verändert werden. […] daß endlich Menschen ein Stück Luft kriegen, um atmen zu können, sich entwickeln zu können, eine Person werden zu können.“19
Der Netzwerkcharakter der Offenen Arbeit
Die Offene Arbeit kann nicht als singuläre Erscheinung an einigen wenigen Orten betrachtet werden. Ein wesentliches Merkmal war die aktive Vernetzung mit Gruppen und Akteuren anderer Orte. Zu unterscheiden ist dabei zwischen Formen jugendlicher Subkultur und den Strukturen zur praktischen und theoretischen Einbindung der Offenen Arbeit in die Amtskirche. Mit der Etablierung und Umsetzung des Konzeptes in verschiedenen Orten der DDR, insbesondere durch die direkte Partizipation Jugendlicher, wurden diese beiden Ebenen jedoch unmittelbar miteinander verknüpft.
In der Entstehungsphase der Offenen Arbeit zu Beginn der 70er Jahre stand zunächst der persönliche Kontakt auf der Ebene gemeinsamer Erfahrungen und übereinstimmender Interessen im Vordergrund. Deutlich läßt sich die enge Verbindung unter den Akteuren am Beispiel der Weitergabe von Theaterstücken und Prosatexten belegen. Neben der Verteilung und Diskussion im Freundeskreis wurden Stücke an mehreren Orten zur Aufführung gebracht.
Ein frühes Beispiel eines solchen subkulturellen Austauschs zwischen Gruppen verschiedener Orte ist die Aufführung des Theaterstücks „Das Interview“ durch Geraer Jugendliche in Jena. Auf Einladung des Jenaer Jugenddiakons Thomas Auerbach wurde das Stück auch in der Jenaer Friedenskirche aufgeführt.20
Ebenfalls in diesem Kontext einzuordnen ist die Umsetzung eines Textes von Thomas Neubauer: „Wir stellen vor! Gustav Flink!“21 als Kabarett in der Geraer Offenen Arbeit. Dasselbe Stück wurde zunächst in einer anderen Version während der Werkstatt der Jenaer Jungen Gemeinde Stadtmitte vom 15./16. Mai 1976 aufgeführt.22
Einen Kristallisationspunkt des entstehenden Netzwerkes kirchlicher Mitarbeiter bildete die Diakonausbildung im Eisenacher Johannes-Falk-Haus. Mitte der 70er Jahre waren hier mit Karsten Christ (Jugendwart in Jena 1977-1982), Wolfgang Thalmann, Lothar Rochau (Jugendwart in Halle-Neustadt 1977-1982) und Wolfgang Musigmann (Jugendwart in Erfurt seit 1979) spätere aktive Träger der Offenen Arbeit versammelt. In der Jugendanalyse 1980 der Bezirksverwaltung Gera des MfS heißt es dazu: „Diese ‚offene Jugendarbeit’ wird im wesentlichen von den zumeist ausgeprägt sozialismuskritischen bis feindlichen Jugenddiakonen organisiert und geprägt.“23
Für die Geraer Offene Arbeit ab 1978 sind Kontakte nach Jena, Erfurt, Halle-Neustadt, Karl-Marx-Stadt und Braunsdorf zu verzeichnen. Diese lassen sich in den „Monatsspiegeln“, einem maschinenschriftlich vervielfältigten Veranstaltungsplan der Geraer kirchlichen Jugendarbeit, konkret nachvollziehen.
Neben den Veranstaltungen in Gera wurde hier auch zu Veranstaltungen in anderen Städten informiert. So wird im „Monatsspiegel“ für Juni 1979 auf einen Abend in Erfurt am 27.06: „Blues – eine Zeitform oder mehr“ und auf das Werkstattwochenende: „JUNE 79“24, beginnend am 29.06 in Rudolstadt, hingewiesen.25 Mobilität war bei Jugendlichen oft ein wichtiges Moment des Lebensgefühls. Für die Zeit ab 1978 in Gera beschreibt Thalmann diese Verbindungen folgendermaßen: „Also das war nicht so als Gruppe, sondern wir sind halt losgefahren, und [haben] gesagt: Kommt, wir fahren dahin. Wer hat Lust, ich fahr dahin.“26
Symbol der Ev. Werkstatt-Jugendwochenende in der Johanniskirche Gera vom 13. bis 15.10.1978 [Quelle: ThürAZ, Sammlung/Urheber: Wolfgang Thalmann, Sg: ThürAZ-P-TW-K-01.10].
Aber nicht nur die gegenseitige Information, auch vergleichbare Veranstaltungsreihen und die identische Verwendung von Symbolen belegen deutlich die enge Verzahnung der einzelnen Gruppen. So trug der Anstecker für ein geplantes Jugendwochenende im Oktober 1978 in Gera genauso wie der Anstecker für JUNE 78 in Rudolstadt als Motiv eine Kerze.
Zentrale Orte der Vernetzung wurden seit 1972 die Treffen der Offenen Arbeit in Braunsdorf sowie überregionale Werkstätten und Großveranstaltungen, wie eben JUNE 78 und 79 in Rudolstadt oder die seit dem Sommer 1979 in Berlin stattfindenden Bluesmessen.
Gerade letztere führten dazu, dass der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) sich veranlaßt sah, den Charakter dieses neu entstandenen Arbeitszweiges kirchlicher Jugendarbeit zu klären.27 Zu diesem Zweck lud Fritz Dorgerloh, Sekretär der Kommission Kirchliche Jugendarbeit des BEK, 1980 kirchliche Mitarbeiter der Offenen Arbeit zu einem Seminar über „Neue Formen kirchlicher Großveranstaltungen“ nach Buckow ein. Auch wenn dieses Treffen aus Sicht von Dorgerloh keine konkreten Ergebnisse in Bezug auf eine Standortbestimmung der Offenen Arbeit in der Kirche hervorbrachte, wurde die hier begonnene Diskussion in jährlichen Treffen im Evangelischen Jugendheim Hirschluch (Brandenburg) fortgesetzt.
Diese Gesamttreffen der Offenen Arbeit dienten neben der konzeptionellen Arbeit in verstärktem Maße dem Austausch über aktuelle Belange, wie der Repression durch das MfS oder auch den Auseinandersetzungen mit der jeweiligen Kirchenleitung und nahmen damit eine wichtige Funktion in der Vernetzung der Offenen Arbeit im DDR-weiten Maßstab ein.
Die Geraer Kirchenleitung zu Beginn der 80er Jahre
In der Amtszeit, des bis 1978 in Gera amtierenden Superintendenten Otto-Adolf Scriba, war es zunächst zu einer ersten Öffnung des kirchlichen Raums für jugendliche Subkultur gekommen. Beispiele dafür sind „Gottesdienste einmal anders“ oder die Aufführung des Theaterstücks „Das Interview“ von Manfred (Ibrahim) Böhme 1973 im Lutherhaus durch nicht kirchlich gebundene Jugendliche.28
Spätestens ab 1980, mit dem Amtsantritt des Superintendenten Otto Heinrich Müller29, veränderte sich das Klima in der Geraer Kirche jedoch erheblich. Die Kirchenleitung vertrat nun die Haltung, dass jeder Versuch einer staatlicherseits als Konfrontation zu bewertenden Handlung zu unterbinden sei.
In einer Analyse des Referats Kirchenfragen der Stadt Gera zur kirchenpolitischen Situation wurde entsprechend festgehalten: „Obwohl Sup. Müller erst ein halbes Jahr in Gera ist, kann eingeschätzt werden, daß er sich bemüht, in seinem Verantwortungsbereich positiven Einfluß zu nehmen […] Den staatlichen Organen gegenüber verhält er sich aufgeschlossen und informiert auch über Probleme, die sich aus der kirchlichen Arbeit ergeben sowie über solche Fragen, die die staatlichen Organe stark interessieren.“30
Ebenfalls bezeichnend ist die Haltung des seit 1975 in Gera amtierenden Kreiskirchenrates Martin Kirchner31. So hatte die Referentin für Kirchenfragen bereits im Juli 1976 nach einer „Aussprache“ notiert: „Es wird eingeschätzt, daß Kirchner in diesem Gespräch sehr offen seine Meinung sagte und sich nicht scheute, innerkirchliche Intrigen aufzudecken. Durch seine Tätigkeit ist er über viele Dinge informiert und diese Kenntnisse sind von uns zu nutzen.“32
Analog der Klassifizierung des MfS findet sich in den regelmäßig erstellten kirchenpolitischen Analysen des Referats Kirchenfragen die Einteilung der kirchlichen Amtsträger in „loyal“, „schwankend“ und „negativ“ gegenüber der Politik der DDR.33 Die Geraer Kirchenleitung wird hier ab 1980 der ersten Gruppe zugeordnet. In der Einschätzung von 1981 heißt es: „Die kirchenleitenden Kräfte in Gera wie Oberkirchenrat Thurm34, Kreiskirchenrat Kirchner, Sup. Müller […] zählen zu den Kräften, die jederzeit gesprächsbereit sind und ein gutes und sachliches Verhältnis zu den staatlichen Organen suchen. Sie haben auch wesentlichen Anteil daran, daß es bisher in Gera zu keiner Konfrontation gekommen ist. Dies kommt zum Ausdruck darin, daß sie sich bei Aktionen, die sich gegen unsere Politik richten, loyal verhalten bezw. sich dagegen wenden […]“35
Dieses schlägt sich deutlich in den Akten des Referats Kirchenfragen nieder. So finden sich zur Amtszeit Scribas wiederholt Protokolle von Vorladungen und „Aussprachen“ zum Zwecke seiner „Disziplinierung“. Ab Anfang der 80er Jahre änderte sich der Charakter der Gespräche mit leitenden kirchlichen Mitarbeitern der Superintendentur Gera. Statt „Aussprachen“ wurden „Gespräche“ geführt, die der „Information zu aktuellen Geschehnissen“ im kirchlichen Raum dienten.
Strukturen der kirchlichen Jugendarbeit
Mit dem Beginn der Tätigkeit Thalmanns Anfang 1978 als Jugendwart bildeten sich in Gera neue Strukturen in der kirchlichen Jugendarbeit aus.36 Bis zu diesem Zeitpunkt lag die Ausgestaltung in den Händen der einzelnen Pfarrer. Durch die Neuorientierung auf die Öffnung und Schwerpunktsetzung im Sinne des Konzeptes der Offenen Arbeit waren neue Wege der Partizipation Jugendlicher und der Koordination in der Pfarrerschaft notwendig. Die Herausbildung neuer Strukturen geschah dabei nicht in einer administrativen Art und Weise sondern entsprang dem Bedürfnis nach Veränderung.
Wichtigster Träger der Offenen Arbeit, der aber keinerlei formalen Aspekten unterlag, wurde der Vorbereitungskreis Jugendlicher des JG-Kellers der Johanniskirche. Dieser ging direkt aus den Aktivitäten im JG-Keller und dessen Umfeld hervor. Hier wurden Veranstaltungen, wie Konzerte und Lesungen organisiert aber auch die Durchführung von Werkstätten übernommen. Zu diesem Vorbereitungskreis hatte Thalmann 1981 an Superintendenten Müller geschrieben: „Diese Jugendlichen sind in verschiedenen Schwerpunkten verantwortlich. Für JG-Abende/thematische Ausarbeitungen/Kreativität/Organisation/Jugendgottesdienste/usw.}“37
Die Konstituierung des Vorbereitungskreises erfolgte nicht innerhalb vorgegebener Strukturen sondern durch die „individuelle Bereitschaft zur Teilnahme“38. Damit war auch verbunden, dass die Mitglieder je nach persönlicher Situation und Interessenlage wechselten. „Man hat sich so automatisch getroffen, also im Keller primär. Und da war dann einmal in der Woche […] zu wenig. Also machen wir mehr. Das war dann so, dass täglich, an sich von Montags bis zum Wochenende ’ne Veranstaltung war. […] Wobei es da mehrere Leute gab, die gesagt haben, also bei dem und dem Thema sind wir zuständig, fühlen wir uns angesprochen, machen wir.“39
Für die Planung und Durchführung von Großveranstaltungen, wie Werkstätten und zentralen Jugendgottesdiensten, bildete sich daneben ein Vorbereitungsteam kirchlicher Mitarbeiter.40 Damit bestand ein struktureller Rahmen und somit auch die Eingliederung in den Raum der Kirche. In der Bestandsaufnahme des MfS zur Situation unter den Jugendlichen für das Jahr 1980 wird genau dieses besonders hervorgehoben. Dort heißt es: „Die besondere Gefährlichkeit dieser Erscheinung besteht darin, daß sie, gebunden an die Organisationsformen der Kirche, eine relative Stabilität besitzt […]“41
Eine dritte Ebene bildete sich mit dem seit März 1979 wieder aktiven Jugendkonvent. „In diesem Konvent, bestehend aus zwei Mitgliedern einer JG, werden wichtige Ereignisse, die über den eigenen JG Charakter hinausgehen, besprochen, werden gemeinsame Großaktionen diskutiert, wird der Monatsspiegel programmgemäß fertiggestellt, […]“42 Diese dritte Ebene entsprach den traditionellen Strukturen kirchlicher Jugendarbeit. Die Bedeutung für die Offene Arbeit ergibt sich aber aus der Schnittstelle zwischen beiden Formen. Ein Hinweis auf diese Funktion findet sich in der Bereitstellung von Informationsstrukturen, wie dem „Monatsspiegel“.43 Über den „Monatsspiegel“ erfolgte die informationelle Vernetzung der einzelnen Jungen Gemeinden, der Offenen Arbeit und der mit Jugendarbeit befassten kirchlichen Mitarbeiter Geras.
Zentrales Verbindungsglied war die Person des Jugendwarts. Er betreute die laufenden Veranstaltungen im JG-Keller, organisierte kirchliche Großveranstaltungen, leitete den Jugendkonvent an und stand somit in unmittelbarem Kontakt zu allen Ebenen kirchlicher Jugendarbeit.
Inhalte und Formen der Offenen Arbeit
Dirk Marshall auf der Liederbühne der Offenen Arbeit Gera o.J. (vmtl. 1981) [Quelle: ThürAZ, Sammlung/Urheber: Wolfgang Thalmann, Sg.: ThürAZ-P-TW-F-060].
Ab Anfang 1978 wurden im JG-Keller über die Woche verteilt verschiedene Veranstaltungen angeboten. Regelmäßige Termine waren: Montag – Lesebühne, Mittwoch – thematischer Abend, Donnerstag – offener Treff. Ab 1980 kam am Dienstag die „Musiktruhe“ hinzu. Innerhalb dieser Struktur wurden die einzelnen Abende vom Vorbereitungskreis in Zusammenarbeit mit dem Jugendwart gestaltet.
Es wurden bspw. Texte von Hermann Hesse, Sarah Kirsch oder Günter Kunert vorgetragen und diskutiert, Musikrichtungen und Bands vorgestellt, Theaterstücke geprobt und aufgeführt.
So entwickelte sich ein Podium für Texte, die in der Öffentlichkeit der DDR nicht bzw. nur eingeschränkt publiziert werden konnten. Dazu gehörten Texte junger Autoren aus dem Umfeld der Offenen Arbeit, aber auch Autoren wie Reiner Kunze. Deutliche Parallelen gibt es in diesem Kontext zwischen dem 1975 in Jena gegründeten Lesekreis der Jungen Gemeinde Stadtmitte44 und der ab 1978 im Geraer JG-Keller regelmäßig veranstalteten Lesebühne.
Ein Schwerpunkt der Offenen Arbeit waren die Themenabende, die zum Teil ihre Fortsetzung in Jugendgottesdiensten und Werkstätten fanden. Hier ist immer wieder die Bezugnahme auf aktuelle Geschehnisse und Diskussionen zu verzeichnen. Deutlich wird dies an Veranstaltungen in den Jahren 1978/79 wie bspw. „Neue Richtlinien des FDJ-Studienjahr“, „Bausoldaten“ oder „Frieden & Nuklearenergie“.45 Weitere Themen des Jahres 1978: „40 Jahre Reichskristallnacht“, „Körpersprache“ oder „Blues“46 verweisen auf das weitgefasste Spektrum thematischer Arbeit. Zusätzlich wurden Informationsveranstaltungen zu spezifischen Problemstellungen, wie „Armeedienst – Info für zukünftige Soldaten“47 angeboten.
Allein schon der Umstand einer thematischen Arbeit wurde staatlicherseits als problematisch eingeschätzt. Im Zusammenhang mit einem Jugendgottesdienst am 09. November 1978 anläßlich des 40. Jahrestages der „Reichskristallnacht“ notierte die Referentin für Kirchenfragen: „Zur Veranstaltung selbst ist einzuschätzen, daß sie sich auf die Vorgänge in der Kristallnacht vor 40 Jahren aus kirchlicher Sicht bezog und keinerlei Angriffe gegen unseren sozialistischen Staat enthielt. […] Dieses Beispiel macht uns wiederum klar, daß seitens der Kirche solche Veranstaltungen und Jubiläen zum Anlaß genommen werden, um mit den vielfältigsten Methoden und Formen ihren Einfluß geltend zu machen.“48 Und generell wurde zur kirchlichen Jugendarbeit formuliert: „In vielen Gemeinden reicht die Arbeit der FDJ nicht aus, um die Jugendlichen anzusprechen. Deshalb gelingt es der Kirche, die Jugendlichen bei bestimmten Dingen an sich zu binden. Wir müssen aufpassen, daß der Einfluß nicht über das normale Maß hinaus wächst. Das ist unser Problem.“49
Gerade die Möglichkeit, dass Jugendliche eigene Themen einbringen konnten, machte die Qualität des „Artikulationsraums“ Offene Arbeit aus. Neben den selbst bestrittenen Veranstaltungen wurden aber auch Musiker oder Autoren eingeladen, denen eine Auftrittsmöglichkeit in staatlichen Räumen verwehrt blieb. So gab im März 1979 Bettina Wegner hier ein Konzert.50
Ökumenischer Friedensgottesdienst in der Geraer Trinitatiskirche mit Pfarrer Roland Geipel am 10.10.1979 [Quelle: ThürAZ, Sammlung/Urheber: Wolfgang Thalmann, Sg.: ThürAZ-P-TW-F-031]
Im Umfeld der Offenen Arbeit sind auch die thematisch ausgerichteten Jugendgottesdienste zu verorten, die vom Vorbereitungsteam kirchlicher Mitarbeiter getragen wurden. Deutlich wird diese Anknüpfung an der Reihe von sechs Jugendgottesdiensten unter dem Gesamtthema „Friedensdienst“ im Jahre 1979. Unter der Klammer „Frieden“ fand eine Auseinandersetzung mit den Themen Umwelt, Strafgesetze und Resozialisierung bis hin zum Umgang mit Kriegsspielzeug statt, Diskussionen die sich so auch im JG-Keller wiederfinden. „Und das was am meisten bewegt hatte, war ein Friedensgottesdienst, also eine Serie von sechs Gottesdiensten in der kleinen Kirche in der Talstraße. Und zwar zum Thema Frieden, Bewahrung der Schöpfung. Das ging also los über Luftverschmutzung, wir haben da Wasserproben mit gehabt und so was, über Gesetze, Inhaftierungen, die Gummiparagraphen haben wir genannt, ’ne Verhaftung, Strafvollzug, Jugendknast. Bis hin zum Schluß, dass wir da eine Kriegspielzeug-Umtauschaktion gemacht haben. Das ging dann richtig rund.“51
„Asozialität“ als Merkmal
Bereits in einem Gespräch der Referentin für Kirchenfragen mit Superintendent Scriba im März 1978 sah diese sich veranlaßt, darauf aufmerksam zu machen, „daß es nicht Aufgabe der Kirche sein kann, haftentlassene und kriminell gefährdete Bürger […] zu unterstützen und damit die Kontrolle der staatlichen Organe zu erschweren.“52 Diese Hervorhebung der Asozialität von Jugendlichen zeigt sich im gesamten Zeitraum des Bestehens der Geraer Offenen Arbeit. „Thalmann konzentrierte den Kern der ‚Jungen Gemeinde’ um sich und zog durch sein Verhalten, Aussehen und seine inhaltliche Arbeit eine Anzahl labiler, ja selbst asozialer Jugendlicher, an sich heran.“53
„Asozialität“ stand somit in einem direkten Zusammenhang zu „Verhalten“ und „Aussehen“. Die Konstruktion des „asozialen Jugendlichen“ zielte in diesem Zusammenhang in erster Linie auf die sogenannte „Tramper- und Gammlerbewegung“.54 Insbesondere zu „Trampern“ hatte das MfS festgestellt: „Infolge ihrer im wesentlichen von der gegnerischen PiD [Politisch-ideologischen Diversion]55 geprägten ideologischen Positionen, negierenden Einstellungen und Haltungen gegenüber gesellschaftlichen Normen und häufig zur Asozialität neigenden Lebensweise, ihren territorialen Konzentrierungs- und überterritorialen Zusammenrottungsdrang sowie ihren überterritorialen Verbindungen und Übernachtungsmöglichkeiten bei Gleichgesinnten, geht von ihnen nach wie vor eine permanente Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit […] aus.“56
Auch in der Auseinandersetzung um die Offene Arbeit innerhalb der Kirche wurde dieses als Argument gebraucht. So vertrat Kreiskirchenrat Kirchner im März 1979 ebenfalls die Position, dass die Vertreter der Offenen Arbeit: „sich […] zum Sammelbecken für asoziale Elemente und Gegner unseres Staates, besonders Jugendliche, herausgebildet haben. Dies hat nichts mehr mit der Arbeit der Jungen Gemeinde zu tun.“57
Dagegen hatte Thalmann 1979 als sozialdiakonische Aspekte der kirchlichen Jugendarbeit in Anlehnung an Walter Schilling hervorgehoben, es ginge um „Probleme der Jugendlichen, die Schwierigkeiten machen, weil sie Schwierigkeiten haben“58 und aufgezählt, welcher Art diese seien. Dabei reichte das Spektrum vom „Elternhaus“ über „Arbeitsstelle, VPKA [Volkspolizei-Kreisamt], […] bis hin zu Fluchtgedanken“59. Jedoch waren dies genau die Art von Problemen, denen in der sozialistischen Gesellschaft kein Platz zugestanden wurde.
In einem Jugendgottesdienst zum Thema „Resozialisierung bei Straftätern (Jugendlichen)“ wurde 1979 das Thema „Asozialität“ in Verbindung mit einem Strafverfahren nach § 249 StGB, dem sogenannten „Asi-Paragraphen“, zur Sprache gebracht. Konkret wurde der Fall eines Geraer Jugendlichen vorgetragen, der vier Tage in seinem Betrieb unentschuldigt gefehlt hatte. Nach einer Fahndung durch die Kriminalpolizei sah er sich mit einem Gerichtsverfahren wegen „asozialer Gefährdung“ konfrontiert.60 Die Durchführung eines Jugendgottesdienstes zu diesem Thema und die Darstellung des konkreten Falles zeigt die Brisanz desselben in der Lebenswirklichkeit jugendlicher Subkultur.
Konzert von Wolfgang Thalmann auf dem Landesjugendsonntag Eisenach zum UNO-Jahr des Kindes 1979 [Quelle: ThürAZ, Sammlung/Urheber: Wolfgang Thalmann, Sg.: ThürAZ-P-WT-F-033].
Die Geraer Kirchenleitung trug die staatliche Position gegenüber unangepaßten Jugendlichen jedoch mit. Sie bewertete diese ganz im Sinne der Referentin für Kirchenfragen und sah es nicht als Aufgabe der Kirche, diese Jugendlichen zu unterstützen. In der Niederschrift zum „Gespräch mit Jugenddiakon Thalmann über Fortführung der Jugendarbeit in Gera und dem augenblicklichen Stand“ schrieb Superintendent Müller 1981: „Wir können es uns nicht leisten, Jahrgänge von Jugendlichen, die durch die kirchliche Unterweisung gegangen sind, zu vernachlässigen, weil wir uns um Randsiedler der Gesellschaft kümmern müssen.“61
Kein Raum für „Randsiedler“
In der sich zuspitzenden Diskussion zwischen der Geraer Kirchenleitung und dem Jugendwart über die Ausrichtung der kirchlichen Jugendarbeit in Gera wurde darauf verwiesen, dass die praktizierte Form nicht den Anforderungen der Kirche entspreche. „Das eigentliche Problem ist die fehlende Koordination von herkömmlicher Jugendarbeit und offener Jugendarbeit.“62 Und in der Ergänzung legte Müller dar: „Das Ziel der Arbeit von Bruder Thalmann ist Selbstfindung des Menschen. Wir sind der Meinung, daß der Mensch sich nur im Angesicht Jesu Christi finden kann und der Verkündigungsauftrag und die Einordnung in das Leben der Gemeinde darum lebensnotwendig sind.“63
Nicht die Öffnung des kirchlichen Raums für die Themen der Lebenswirklichkeit Jugendlicher sollte im Vordergrund der Arbeit stehen, sondern die Betreuung und weitere Unterweisung von bereits konfirmierten oder kirchlich gebundenen Jugendlichen.
Die unterschiedlichen Positionen wurden dabei nicht nur innerhalb der Kirche vertreten, sondern mündeten auch in dem Verhalten gegenüber staatlichen Stellen. Hatte Scriba sich Ende 1978 in der Frage einer fehlenden Druckgenehmigung noch schützend vor seinen Mitarbeiter gestellt, war die Haltung Kreiskirchenrat Kirchners zu diesem Zeitpunkt bereits eine entgegengesetzte. In einem Gesprächsprotokoll der Referentin für Kirchenfragen wird dazu festgehalten: „Kirchner deutete im Gespräch an, daß Thalmann illegal Plakate anfertigt. Über den negativen Einfluß, den Thalmann auf Jugendliche ausübt, wären wir ja bereits informiert.“64
Die bereits hier von einem Mitglied der Kirchenleitung Geras vertretene Position, dass der Einfluß des Jugendwarts als „negativ“ zu bewerten sei, ist dabei im Kontext der „Loyalität“ der Kichenleitung zur Staatspolitik einzuordnen.
Mit dem Amtsantritt Müllers wurde diese Position von der Gesamtheit der Geraer Kirchenleitung getragen. In der Konsequenz sah Superintendent Müller sich veranlasst, persönlich dafür Sorge zu tragen, dass es bei Jugendveranstaltungen nicht zu „Konfrontationen“ mit dem Staat komme. Zudem wurde im April 1981 Jugendwart Thalmann aufgefordert, einem Aufhebungsvertrag zur Beendigung des Dienstverhältnisses zuzustimmen. „Als Grund hierfür wurde angeführt, daß Thalmann […] nebenbei ständig mit asozialen Personen außerhalb der Kirchgemeinde wirksam wird.“65
Am 15. Mai 1981 erfolgte die Kündigung Thalmanns durch den Gemeindekirchenrat. Diese wurde am 25. Mai 1981 dem Landeskirchenrat unter Vorsitz von Landesbischof Werner Leich vorgelegt und durch dieses Gremium genehmigt. Der Jugendwart wurde darüber nicht informiert. Im Sitzungsprotokoll heißt es: „Der Landeskirchenrat genehmigt die Kündigung des Gemeindekirchenrats Gera. Die Zustellung dieser Mitteilung ist zurückzuhalten.“66 Die Initiativen Thalmanns, Pfarrer Roland Geipels und einzelner Jugendlicher der Offenen Arbeit Geras, den Landesbischof in der Folge als Vermittler und Fürsprecher zu gewinnen, waren damit von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Um ein weiteres Wirken Thalmanns zu verhindern, untersagte ihm die Geraer Kirchenleitung jegliches weitere öffentliche Auftreten in kirchlichen Räumen.67
Im Ergebnis der Auseinandersetzung wurde kein neuer Jugenddiakon zur Koordination der kirchlichen Jugendarbeit mehr eingestellt. Diese sollte stattdessen wieder durch die Pfarrer der einzelnen Kirchgemeinden betreut werden.
Fazit
Mit der Offenen Arbeit wurde in Gera zwischen 1978 und 1981 ein „Freiraum“ unter dem Dach der Evangelischen Kirche etabliert. Innerhalb dieses „Freiraums“ war es möglich, öffentlich wahrnehmbar gesellschaftliche Normen in Frage zu stellen. Zugleich entstand damit ein Ort der Aktzeptanz unangepaßter Lebensmodelle und jugendlicher Subkultur. Die hier geführten Auseinandersetzungen resultierten aus der Lebenswirklichkeit Jugendlicher in der SED-Diktatur, der Suche nach dem eigenen Weg und den daraus entstandenen Konflikten.
Der Offenen Arbeit war die ständige Grenzüberschreitung immanent. In der klaren Absetzung zum „Mitschwimmen“ in der Gesellschaft entfaltete sie ihre Ausstrahlung und Bedeutung. Zugleich war dies genau der Grund, warum sie permanentem Druck sowohl von seiten des Staates als auch von Kirchenleitungen ausgesetzt war. Die Kündigung des Geraer Jugendwarts ist dabei nur ein Beispiel einer ganzen Reihe von Repressionsmaßnahmen deren bekannteste die Schließung des Braunsdorfer Rüstzeitheims 1980 und die Inhaftierung des Hallenser Jugenddiakons Lothar Rochau 1983 sind.
In Gera läßt sich dabei deutlich zeigen, dass das Bestehen eines Artikulationsraums Kirche davon abhängig war, inwieweit die jeweiligen Entscheidungsträger sich innerhalb staatlicher Richtlinien funktionalisieren ließen oder ob sie einen eigenen Entscheidungsfreiraum beanspruchten. Die Haltung der Geraer Kirchenleitung führte letztendlich dazu, dass erst wieder 1988, dann jedoch in der Katholischen Kirche, mit der Gründung der Informationsbibliothek ein kontinuierlich zur Verfügung stehender Artikulationsraum in der Kirche entstehen konnte.
Anmerkungen
1 Teilergebnis eines Forschungsprojektes zur Opposition in Gera in den 80er Jahren des Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“, Gesamtpublikation: Katharina Lenski/Reiner Merker: Zwischen Diktat und Diskurs. Oppositionelle Handlungsräume in Gera in den 80er Jahren, Erfurt 2006.2 Vgl. Horch und Guck. Sonderheft „Matthias Domaschk“. Sonderheft 1 (2003).3 Maihorn: Niederschrift, [Gera 22.04.1981]. Stadtarchiv Gera (StdA Gera), III C 2505/10111, unpag.4 Ebd.5 Maihorn: Sofortinformation, Gera 28.04.1981. Thüringer Hauptstaatsarchiv Rudolstadt (ThStA Rud.), RdB Gera, 7.4/274, Bl.188.6 Maihorn: Gespräch mit KKR Kirchner, Gera 12.05.1981. ThStA Rud., RdB Gera, 7.4/274, Bl.197.7 Schilling: Bekenntnis, Braunsdorf 14.11.1974. Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ (ThürAZ), WS-K-4.2, unpag.8 Walter Schilling: Thesen zu einem Gespräch mit dem Bischofskonvent der Evangelischen Kirchen in der DDR am 6. Mai 1982. Abdruck in: Lars Eisert-Bagemihl/Ulfrid Kleinert (Hg.): Zwischen sozialer Bewegung und kirchlichem Arbeitsfeld. Annäherungen an die Offene Jugend(-)Arbeit, Leipzig 2002, S.135-140.9 Marc-Dietrich Ohse: Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961–1974), Berlin 2003, S.264.}10 Ebd.11 Vgl. Erhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Bonn 2000, S.184f.; Ohse: Jugend, S.273.}12 Thalmann: Brief an Sup. Müller, Gera 11.05.1981. ThürAZ, P-T-K-1.02, unpag.13 Detlef Pollack: Politischer Protest. Politisch alternative Gruppen in der DDR, Opladen 2000, S.35f.14 Claus-Jürgen Wizisla: Thesen zur Begründung und Zielsetzung offener Jugendarbeit, [o.O.] 1972. Zit. nach: Neubert: Geschichte der Opposition, S.185.15 Thalmann: Brief an Sup. Müller, Gera 11.05.1981. ThürAZ, P-T-K-1.02, unpag.16 Ebd.17 Pollack: Politischer Protest, S.75.18 Walter Schilling: Die Offene Arbeit. Emanzipationsbewegung in den Kirchen seit Ende der sechziger Jahre. In: Umweltblätter. Berlin [März] 1989, S.12-13.19 Schilling: Offene Arbeit, S.12f.20 Interview mit Hans-Peter Jakobson am 08.11.2004.21 Thomas Neubauer: Wir stellen vor! Gustav Flink! [o.O. o.J.]. ürAZ, P-T-K-2, Bl.43-45. Da Neubauer Ende 1975 nach Westberlin ausreiste, ist der Text auf die Zeit vor 1975 zu datieren.22 Henning Pietzsch: Opposition und Widerstand. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit „Offene Arbeit“ Jena 1970–1989, Berlin 2004, S.90.23 BVG/AKG d. MfS: Jugendanalyse 1980, Gera 13.02.1981, Bl.10f.24 Vgl. ThürAZ (Hg.): Losgehen und Ankommen. Jugendkultur in der DDR Ende der 70er Jahre am Beispiel der Jugendgroßveranstaltungen JUNE 78/JUNE 79 in Rudolstadt, Jena 1999.25 Monatsspiegel der Geraer JG’s für Juni. [Gera Juni 1979]. ThürAZ, P-T-K-1.06, unpag. Bei den auswärtigen Terminen wurde zudem immer die Bahnverbindung mit angegeben.26 Interview mit Wolfgang Thalmann am 10.11.2004.27 Fritz Dorgerloh: Entstehung und Hintergründe der Positionsbeschreibung „Offene Arbeit“/sozialdiakonische Jugendarbeit von 1984. Erinnerungen und Wertungen aus heutiger Sicht. In: Eisert-Bagemihl/Kleinert (Hg.): Offene Jugend(-)Arbeit, S.125f.28 Aktennotiz, Gera 25.11.1982. ThStA Rud., BPA SED Gera, A 8239, Bl.22.29 Otto Heinrich Müller wurde durch die BV Gera des MfS als IMS „Hartmann“ (Reg.-Nr. XIII 570/77), zuvor bereits durch die BV Suhl als GI „Wilhelm Kirchner“ (Reg.-Nr. VII 3322/60) geführt. Vgl. Walter Schilling: Die Bearbeitung der Landeskirche Thüringen durch das MfS. In: Clemens Vollnhals (Hg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit, Berlin 1996, S.211-266.30 Maihorn: Analyse Situation evangelischen Kirche in Gera, [Gera 1980]. StdA Gera, III C 2505/10108, unpag.31 Martin Kirchner wurde durch das MfS als IMS „Frank Körner“ (Reg.-Nr. IX 9/70) geführt. Vgl. Schilling: Bearbeitung.32 Maihorn: Niederschrift, Gera 14.07.1976. StdA Gera, III C 2505/10111, unpag.33 Übersicht kirchl. Mitarbeiter der Superintendentur Gera. ThStA Rud., BPA SED Gera, A 8025, Bl.246.34 Christoph Thurm wurde als IME des MfS „Bruno Köhler“ (Reg.-Nr. X 460/75) geführt. Vgl. Schilling: Bearbeitung.35 Maihorn: Einschätzung Kirchenfragen, Gera 10.11.1981. StdA Gera, III C 2505/10108, unpag.36 Es werden hier nur diejenigen Strukturen betrachtet, die unmittelbar für die Offene Arbeit relevant sind.37 Thalmann: Brief an Sup. Müller, Gera 11.05.1981. ThürAZ, P-T-K-1.02, unpag.38 Pollack: Politischer Protest. S.179.39 Interview mit Wolfgang Thalmann am 10.11.2004.40 Thalmann: Überblick Situation kirchliche Jugendarbeit in Gera, [o.O. 1979]. ThürAZ, P-T-K-2, Bl.015.41 BVG/AKG d. MfS: Jugendanalyse 1980, Gera 13.02.1981, Bl.4.42 Thalmann: Überblick Situation kirchliche Jugendarbeit in Gera, [o.O. 1979]. ThürAZ, P-T-K-2, Bl.015.43 Vgl. Monatsspiegel der Geraer JG’s für Juni. Gera [Juni 1979]. ThürAZ, P-T-K-1.06, unpag.44 Vgl. Pietzsch: Opposition und Widerstand, S.50f.45 Thalmann: Kalender, 1978/1979. ThürAZ, P-T-K-3.06.46 Ebd.47 Monatsspiegel der Geraer JG’s für Juni, Gera [Juni 1979]. ThürAZ, P-T-K-1.06, unpag.48 Maihorn: Information, Gera 16.11.1978. ThStA Rud., RdB Gera, 7.4/280, Bl.59.; Ablaufplan und Texte Jugendgottesdienst zur 40-jährigen Wiederkehr der „Reichskristallnacht“. Gera 09.11.1978. ThürAZ, P-T-K-2, Bl.30–32.49 Dies.: Niederschrift Beratung Bezirke Erfurt, Gera, Suhl, Gera 05.06.1979, S.5. StdA Gera, III C 2505/10108, unpag.50 Dies.: Niederschrift Aussprache mit KKR Kirchner, Gera 15.03.1979. StdA Gera, III C 2505/10111, unpag.51 Interview mit Wolfgang Thalman am 10.11.2004.52 Maihorn: Niederschrift, Gera 21.03.1978. StdA Gera, III C 2505/10111, unpag.53 RdB Sektor Kirchenfragen: Einschätzung der Jugendarbeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften, Gera 16.01.1980. ThStA Rud., RdB Gera, 7.4/269, Bl.134.54 Vgl. Sven Korzilius: „Asoziale“ und „Parasiten“ im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung, Köln [u.a.] 2005, S.464f.; Thomas Lindenberger: Das Fremde im Eigenen des Staatssozialsmus. Klassendiskurs und Exklusion am Beispiel der Konstruktion des „asozialen Verhaltens“. In: Jan Behrends/Thomas Lindenberger/Patrice Poutrus (Hg.): Fremde und Fremd-Sein in der DDR. Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, Berlin 2003, S.179-191.55 Zur „Politisch-ideologischen Diversion“ vgl. Siegfried Suckut (Hg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zu „politisch-operativen Arbeit“, Berlin 2001, S.303f.56 BVG/AKG d. MfS: Jugendanalyse 1980, Gera 13.02.1981, Bl.10f.57 Maihorn: Niederschrift Aussprache mit KKR Kirchner, Gera 15.03.1979. StdA Gera, III C 2505/10111, unpag.58 Thalmann: Überblick Situation kirchliche Jugendarbeit in Gera, [o.O. 1979]. ThürAZ, P-T-K-2, Bl.015.59 Ebd.60 Überblick Resozialisierung bei Straftätern, [1979]. ThürAZ, P-T-K-2, unpag.61 Müller: Ergänzung zur Niederschrift, Gera 11.05.1981. ThürAZ, P-T-K-1.02, unpag.62 Ders.: Betr. Gespräch mit Thalmann über Fortführung der Jugendarbeit in Gera, Gera 11.05.1981. ThürAZ, P-T-K-1.02, unpag.63 Ders.: Ergänzung zur Niederschrift, Gera 11.05.1981. ThürAZ, P-T-K-1.02, unpag.64 Maihorn: Niederschrift Aussprache mit KKR Kirchner, Gera 15.03.1979. StdA Gera, III C 2505/10111, unpag.65 Dies.: Ergänzung Information 28.04.1981, Gera 06.05.1981. ThStA Rud., RdB Gera, 7.4 / 274, Bl.186.66 10. Sitzung des Landeskirchenrates. Eisenach 25.5.1981. In: IMB „Nettelbeck“, IX 163/73, Bd.II/V, Bl.297.67 Streeck: Information, Gera 19.02.1982. StdA Gera, C 2505/10108, unpag.