


Als Sohn eines Pfarrers wurde ich erstmals mit meinem Schuleintritt mit dem real existierenden Sozialismus „konfrontiert“, allein die Frage, ob ich nicht Jungpionier werden wolle, führte zu ersten Diskussionen daheim. Ich wollte, mein Vater nicht, meine Mutter wünschte hingegen keine „Konfrontation“. Also wurde ich Pionier, trug das blaue Halstuch, bezahlte nicht nur meinen Beitrag sondern kaufte fleißig Solidaritätsmarken, ich war ja schließlich auch ein Briefmarkensammler. Ein weißes Pionierhemd habe ich damals jedoch leider nie besessen.
Dass der Beruf meines Vaters immer wieder als Hindernis meiner „Schullaufbahn“ diente, passte mir nicht. Schlimmer war aber die Hänselei, von älteren Schülern immer als „Pope“ bezeichnet zu werden. Eine wirkliche Konfrontation gab es aber in der Schule erst, als ich von meinem Mathelehrer zur Kreis-Mathematikolympiade „delegiert“ wurde und diese auch noch gewann. Der Lehrer wurden „diszipliniert“, von dem Teilnahmetermin auf Bezirksebene habe ich dann gar nicht erst erfahren.
Meine gewünschte Zulassung zur EOS wurde vom Schuldirektor und vom Kreisschulrat unterbunden. Meine Klassenlehrerin, die Frau eines NVA-Offiziers, die sich für mich einsetzte, erkrankte auf Grund des Druckes der Schulleitung und wurde ihrer Funktion als Klassenlehrerin enthoben. Ich absolvierte die POS. Nach der 10. Klasse wurde meine Bewerbung zum Beruf mit Abitur ebenfalls abgelehnt.
Die Berufsausbildung als BMSR-Techniker in den Bunawerken begann gleich mit meiner ersten Verweigerung. Statt den Betrieb kennen zu lernen, wurden die männlichen Lehrlinge in den ersten beiden Wochen in GST-Uniformen gesteckt und lernten marschieren, Sturmbahnen zu überwinden und einem Atomangriff auszuweichen. Höhepunkt der Ausbildung war dann das Kleinkaliberschießen mit echter Munition. Dies verweigerte ich, von meinen Brüdern wusste ich, dass das irgendwie geht. Betriebsschuldirektor und Lehrmeister versuchten mich eines Besseren zu belehren, es drohte die Aufhebung des Lehrvertrages. Nach der Zusicherung, anderen Lehrlingen nichts über meine Verweigerung zu sagen, wurde ich im Folgejahr als einer von wenigen damit „belohnt“, ein besonderes GST-Lager auf der Insel Rügen absolvieren zu dürfen. Meine Entscheidung stand fest, auch hier werde ich den Waffengebrauch verweigern.
Die Diskussionen und erforderlichen Rechtfertigungen stärkten meine Überzeugung und Argumentation, nie einen Menschen mit einer Waffe töten zu wollen, auch nicht für den „sozialistischen Friedensstaat“. Der immer wieder verkündete Friedenswillen der DDR und seiner Waffenbrüder wurde endgültig mit dem Einmarsch der Sowjetarmee in Afghanistan unglaubwürdig, dem ersten mir voll bewussten Militäreinsatz des Ostblocks. Nach meiner Musterung zum waffenlosen Bausoldaten überlegte ich, im Falle der Einberufung die Armee total zu verweigern, schob diese Entscheidung aber auf den Tag der Einberufung hinaus. 1983, nach der Geburt meiner Tochter, war klar: Drei Jahre im Knast leben zu müssen, hältst Du nicht durch. Ich fand mich nur schwer mit dem Kompromiss ab, für die Armee zwar waffenlose, aber militärische Dienstleistungen erbringen zu müssen.
Ich folgte dem Einberufungsbescheid und hatte dabei noch die Hoffnung, so handeln zu können, dass wir Bausoldaten nicht nur den Waffendienst verweigern, sondern auch das Sandkorn im Getriebe der Armee sind. Ich musste die Grenzen meines Widerstandswillens recht bald erkennen. Schon beim Abschneiden meiner Haare am zweiten Armeetag verließ mich dieser Wille, denn ständige Aufsässigkeit wäre in den Folgen vermutlich der Entscheidung der Totalverweigerung gleich gekommen. Die Kasernentore öffneten sich zum vierteljährlich gewährten Urlaub nur für diejenigen, die sich zumindest dem Anschein nach konform verhielten. Schriftlich verweigerte ich das Sprechen des Gelöbnis, dies blieb folgenlos. Dann schachtete ich 18 Monate für den sozialistischen Hafenbau.
1986, auf der Suche nach Kontakten in meiner Studienstadt Jena, besuchte ich u.a. auch die Junge Gemeinde (JG) Stadtmitte. Freunde, die hier schon lange engagiert waren, fragten mich, ob ich nicht Interesse hätte, bei der Vorbereitung von Veranstaltungen außerhalb der JG mit tätig zu werden. In einem ersten Vorbereitungstreffen am Johannisplatz diskutierten wir die Ziele dieser Veranstaltungsreihe: In Jena sollte eine Öffentlichkeit für kritische und zum Teil mit Auftrittsverbot belegte Künstler hergestellt werden. Dies konnte nur in kirchlichen Räumen stattfinden.
Die Veranstaltungen sollten für die Besucher kostenfrei sein und als Benefiz-Veranstaltungen geplant werden, wobei natürlich dem oder der Auftretenden die Unkosten erstattet werden müssten. Nicht „Brot für die Welt“ oder ein anderer bekannter kirchlicher Zweck sollte Unterstützung finden, sondern Projekte, die einerseits relativ unbekannt und zum anderen unabhängig von staatlichen bzw. offiziellen kirchlichen Solidaritätsprojekten waren. Einen Schwerpunkt stellte die Hilfe für die sogenannte 2/3-Welt (die Ärmeren der Welt) dar. Die Projekte sollten den Besuchern vorgestellt werden, sodass eine persönliche Identifikation mit diesen stattfinden könnte.
Die ersten Überlegungen diskutierten Petra, Kaktus (Thomas Grund), Martina, Carsten, Henning, Eisi (Jens Eisenberg, IMS „Leonardo“/IMB „Frank“) und ich. Wir trafen uns bei Martina und Carsten am Johannisplatz, machten Termine, verteilten die Aufgaben, nahmen Rücksprache mit den zuständigen Pfarrern und dem Superintendenten. Ich wurde gebeten, den Kontakt zu den Projekten herzustellen.
Was motivierte mich an unserem Vorhaben? In Schule, Ausbildung und Berufsalltag habe ich immer wieder feststellen müssen, dass meine Ansichten zu politischen und gesellschaftlichen Themen kaum wahrgenommen wurden. Ich stand mit meinen Überzeugungen und Einstellungen in der „Gesellschaft“ recht allein. Mein sonstiges Engagement fand in kirchlichen Gruppen oder alternativen Szenen statt, welche mit der Lebenswirklichkeit in staatlichen Einrichtungen wenig zu tun hatten.
Die Waffendienstverweigerung und die damit verbundene Einberufung zum Bausoldatendienst brachte meine beiden Lebensbereiche in konfliktreiche Beziehung. 360 Verweigerer, überwiegend Menschen aus kirchlichen und alternativen Gruppen waren im staatlichen Pflicht- und Zwangsdienst an einem Standort gemeinsam kaserniert. An Vernunft und einen Austausch der Überzeugungen mit der Obrigkeit war nicht zu denken, Befehl und Gehorsam zogen in der Regel die Grenzen zu einem möglichen Miteinander, das von der Armeeführung auch nicht gewünscht war. Später, an der Universität, trennte sich wiederum privates von universitärem Leben. Kirchliche Gruppen waren zwar offen für Studenten und Mitarbeiter der Universität, aber die Hemmschwelle war gewaltig. Meine Kommilitonen, zum Teil Parteigenossen, die Jungs in der Regel mit längerem Armeedienst, zur Offenen Arbeit in die JG Stadtmitte mitzunehmen, war kaum vorstellbar: Hier trafen sich Punks und die „Gestrandeten“.
Künstler für Andere stellte ein niedrigschwelliges Angebot dar, sich mit kritischem Gedankengut auseinanderzusetzen. Natürlich war schon der Gang in eine Kirche eine Hemmschwelle. Aber zu einer Veranstaltung, die keinen gottesdienstlichen Charakter hatte und genauso (mit weniger kritischem Potential) in einem staatlichen Kulturhaus hätte stattfinden können, war es eher denkbar, Menschen anderer Sozialisation anzusprechen. Um in dieser Gesellschaft leben zu können, musste sich in den Köpfen der Menschen etwas ändern. Die DDR sollte offener werden, es sollte freier diskutiert werden können, alternative Lebensformen sollten lebbar sein, die staatliche Bevormundung und insbesondere die Angst vor Repressionen sollte abgebaut werden.
Aber auch Spaß und Lust, miteinander diese Veranstaltungsreihe zu managen, war ein Ziel. Die Feten nach der Veranstaltung, meist mit den Auftretenden, waren für alle ein Gewinn. So fand auch Vernetzung und Kommunikation über Stadtgrenzen statt. Auf mehr Demokratie oder weniger „proletarische Diktatur“ zu hoffen, war für mich kein Ziel. Durch „homöopathische“ Infusionen konnten die Besucher einen anderen Geist erleben, aber an Revolution dachte vermutlich niemand. Da direkte staatliche Repression für mich nicht spürbar war, gab das selbst organisierte Kulturleben einen Hauch von Freiheit.
Von 1987 bis 1990 wurde das Konzept monatlicher Veranstaltungen „durchgehalten“. Die Besucherzahlen waren zum Teil überwältigend, es gab aber auch Abende mit nur 30 Teilnehmern. Das vordergründige Ziel, kritischere Künstler und alternative Projekte bekannter zu machen, wurde erreicht. Die Veranstaltungsreihe war nicht nur stadtbekannt, Besucher kamen bei einigen Veranstaltungen aus ganz Thüringen. Die Vernetzung mit ähnlichen Veranstaltungsreihen in Halle und Berlin funktionierte, die Akzeptanz in der Evangelisch-Lutherischen Kirchgemeinde Jena war vorhanden und die Räumlichkeiten (Lutherhaus, Friedenskirche und Gemeindehaus Hornstraße) ohne Schwierigkeiten buchbar.
Die Besonderheit: Außer Kirchensteuereintreiber Kaktus gab es keine kirchlichen Mitarbeiter, die Geistlichkeit ließ uns selbständig agieren, wollte nur über Termine und Inhalte informiert sein. Ein Verbot eines Auftrittes oder eines Projektes gab es nie, nur beim Auftritt von Freya Klier und Stephan Krawczyk gab es Absprachen zum Ablauf und ein Vorgespräch mit beiden Künstlern.
In der Vorbereitungsgruppe selbst bestand ein sehr gutes Vertrauensverhältnis, Mitarbeitende waren fast immer ausreichend da. Inwieweit die von mir oben genannten Ziele erreicht wurden, lässt sich nicht verifizieren. Lust und Spaß waren bei den Organisatoren gegeben, jedoch getrübt durch den Weggang von Eisi (dem meines heutigen Wissens nach einzigen Informellen Mitarbeiter der Staatssicherheit in der Gruppe), Martina, Carsten und Henning gen Westen, aber auch denen, die das „Handtuch“ später geschmissen haben, wie Martin. Immer kamen jedoch neue Mitarbeitende hinzu, so Christine, Haide, Simone und andere.
Fotos
Andreas Ilse (1.v.l.) und Henning Pietzsch (2.v.l.), Jena 1986. [Quelle: ThürAZ, Sammlung/Foto Henning Pietzsch].